Tel Aviv ist wieder aufgewacht

Vierzig Tage war das Land im Lockdown. Jetzt fragt sich nach den Spuren, die die Krise hinterlassen könnte.

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Tel Aviv erwacht langsam, doch haben der Stadt viele – zumindest vorübergehend – den Rücken gekehrt. © flash90

Die Menschen haben den Dizengoff-Platz wieder erobert. Die Bänke rings um den Springbrunnen sind so voll wie früher. Viele sind in lebhafte Unterhaltungen vertieft, dazwischen wuseln kleine Kinder und Hunde. Wären nicht die Masken und leeren Cafés, die allenfalls Kaffee-to-go verkaufen dürfen, man könnte sich fast in alten Zeiten wähnen. Nach einem vierzigtägigen fast komplettem Lockdown bahnt sich seit Anfang Mai langsam erneut ein Alltag den Weg. Tel Aviv ist wieder aufgewacht. Die Stadt zählt zur „grünen Zone“, hat also eine sehr geringe Ansteckungsrate. Deshalb soll jetzt der Schulunterricht bald wieder ganz normalisiert werden.
Die Lockerungen und anhaltenden Einschränkungen sind nicht immer ganz nachzuvollziehen. Warum durfte IKEA schon aufhaben und nicht der kleine Laden um die Ecke? Warum darf man auf einem Stein am Strand sitzen, nicht aber auf dem Sand? Auch ist von der Gefahr einer zweiten Welle im Herbst die Rede, darauf müsse man sich vorbereitet, aber jetzt gibt es erst einmal ein vorsichtiges Aufatmen. Verglichen mit dem Rest der Welt steht Israel gut da. Mitte Mai gab es 16.579 registrierte Corona-Kranke, 265 sind gestorben.
In dem Versuch, die Krise zu meistern, schaut man aber auch von hier gerne auf die Maßnahmen in anderen Ländern – in Europa. In Pressekonferenzen verwies Benjamin Netanjahu oft auf Angela Merkel und inzwischen besonders gerne auf Sebastian Kurz. Man sei in engem Austausch. Dabei gehört das Schulwesen zu den zentralen Themen. Das Erziehungsministerium forschte gerade ganz spezifisch nach dem Umgang mit Kindern in Förderschulen in Deutschland und Österreich.

Die Welt draußen, jenseits der eigenen Grenzen,
bleibt aber vorerst
unerreichbar in der Ferne.

Die Welt draußen, jenseits der eigenen Grenzen, bleibt aber vorerst unerreichbar in der Ferne. Dieses Inseldasein gilt in Israel noch mehr als anderswo. Heimaturlaub ist angesagt, seitdem die Gastgeber von Zimmeril wieder Anmeldungen entgegennehmen dürfen. Die meisten Unterkünfte in Galiläa sind zu den Schawuot-Feiertagen schon komplett ausgebucht. In normalen Zeiten wären viele stattdessen zu einem Kurztrip nach Griechenland oder Barcelona aufgebrochen. Der Flugverkehr hat zu solchen Zeiten immer Rekordzahlen verzeichnet. Jetzt bangt die El Al um ihre Existenz. Die wenigen Piloten, die noch fliegen, bringen Waren ins Land. Dazu gehörten auch Millionen von Eiern aus der Ukraine kurz vor Pessach.

© flash90

Eine Freundin, die normalerweise beruflich viel unterwegs ist, hat sich auf ihrem Handy die Tafel der Ankunfts- und Landezeiten auf dem Flughafen Ben Gurion heruntergeladen. Ihr morgendlicher Blick auf das Display hat aber eher mit Psychologie als mit dem dringenden Wunsch nach Fernreisen zu tun. Einige wenige Verbindungen gibt es ja noch. Auch nach Wien kann man es theoretisch schaffen, mit viel Geduld und einem kleinen Umweg mit Ethiopian Airlines über Addis Abeba und dann noch einem weiteren Stopp in Paris. 29,5 Stunden zeigt Skyscanner dafür an. Das Ticket ist für 3.000 Euro zu haben.

Ach ja, fast hätte man es schon vergessen.
Inzwischen gibt es tatsächlich eine neue Regierung.

Über weitere Corona-Effekte geben Statistiken Auskunft. Der Gebrauch von Kreditkarten ist drastisch zurückgegangen. Viele merken, dass man auch mit viel weniger auskommt. In Tel Aviv wurden auch wieder mehr Wohnungen an ganz gewöhnliche Mieter vermietet und weniger für Airbnb-Zwecke genutzt. Zugleich denken immer mehr laut darüber nach, nach der Krise ins Grüne auf dem Land zu ziehen. Die Entschleunigung hat ihnen gut getan und den bisher gewohnten Stress in Frage gestellt.
Zudem hat die Arbeit im Homeoffice viel besser funktioniert als erwartet, das macht die Option einer Stadtflucht realistischer. Wer nicht mehr unbedingt täglich im Büro präsent sein muss, kann auch längere Anfahrtszeiten aus Pardes Hanna bewältigen.
Andere haben Tel Aviv – zumindest vorübergehend – bereits den Rücken gekehrt. Aber nicht, weil sie sich aus freien Stücken für eine Neuorientierung entschieden haben, sondern weil sie es sich nicht mehr leisten können. Dieser Trend führt zurück ins frühere Kinderzimmer im Elternhaus. Kunstschaffende sind am stärksten davon betroffen, aber nicht nur. Bürgermeister Ron Huldai geht davon aus, dass auch rund zwanzig Prozent der jungen Eltern aus finanziellen Gründen die Stadt wieder verlassen werden. In den vergangenen Jahren gab es einen regelrechten Boom in die andere Richtung. Um mitzuhalten, wurden in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Kindergärten und Grundschulen neugegründet.
Nach Angaben des zentralen Statistikbüros ist Israel in den vergangene Dekaden zunehmend urbaner geworden. Drei Viertel der Bewohner leben in Städten. Offen ist, ob die Corona-Krise schaffen kann, was bisher zum Scheitern verurteilt war – nämlich, mehr Arbeitsplätze in der Negev-Wüste und in Galiläa zu generieren und Qualitätsjobs zu schaffen. Doch es ist viel zu früh für Prognosen. Niemand kann derzeit absehen, welche Spuren die Krise langfristig hinterlassen wird.
Ach ja, fast hätte man es schon vergessen. Inzwischen gibt es tatsächlich eine neue Regierung. Nach mehr als eineinhalb Jahren und mit so vielen Ministern wie noch nie in der Geschichte des Landes. Social Distancing hat den Politikern, die ja ohnehin dazu neigen, den Kontakt zum Volk nach der Wahl zu verlieren, sicherlich nicht gut getan.

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