WINA: In Ihrem aktuellen Buch The Politics of Repressed Guilt. The Tragedy of Austrian Silence („Die Politik der unterdrückten Schuld. Die Tragödie des österreichischen Schweigens“) zeichnen Sie kollektive Mechanismen in Österreich nach, mit der Mitschuld am Nationalsozialismus umzugehen oder eben nicht umzugehen. Wann wären aus Ihrer Sicht Zeitpunkte gewesen, zu denen das Land einen anderen Weg einschlagen hätte können?
Claudia Leeb: Alle Fälle, die ich im Buch untersuche, von Gerichtsverhandlungen österreichischer NS-Täter bis hin zu zeitgenössischen Debatten über das Erbe Österreichs an NS-Verbrechen, sind wichtige Momente gewesen, in denen sich ÖsterreicherInnen mit der individuellen und kollektiven Schuld hätten konfrontieren können. Doch anstatt diese Momente zu nutzen, um mit dieser Schuld adäquat umzugehen, verwendeten sie eine Reihe von Abwehrmechanismen, um diese Schuld weiterhin abzuwehren.
Mit der Kanzlerschaft von Franz Vranitzky hat sich das offizielle Österreich vom Status des ersten Opfers distanziert. Sie schreiben nun, dass dennoch teils immer noch an diesem Mythos festgehalten wird. Können Sie Beispiele nennen?
In den hitzigen Debatten um die Inszenierung von Thomas Bernhards Theaterstück Heldenplatz, welches die Fortsetzung des Antisemitismus in Österreichs Achtzigerjahren aufzeigt, begegnete man wiederholt der Darstellung von Österreich als erstem Opfer. Ebenso begegnet man in den kontroversen Debatten über die Gründung eines Hauses der Geschichte in Wien wiederholt Aufrufen, die Österreicher in diesem Museum als Opfer oder als im Widerstand zum NS-Regime darzustellen.
Der Arzt, der zunächst zögert, sich am Morden zu beteiligen, dann angesichts eines bestätigenden Umfelds doch mitmacht, gleichzeitig aber Mechanismen entwickelt, sich innerlich vom Töten zu distanzieren (Stichwort: „Behandlungsauftrag“) zum einen, zum anderen nachfolgende Generationen, die betonen, der Vater, der Großvater habe nur seine Pflicht getan. Wie gehören diese Phänomene zusammen?
Im Falle des österreichischen Arztes Dr. Niedermoser war sowohl die Überidentifikation mit dem Kollektiv von Soldaten, das nur seine Befehle ausübte, als auch die Überidentifikation mit dem Berufskollektiv von prominenten Ärzten, die alle Hitlers „Euthanasieprogramm“ unterstützten, zentral dafür, dass er schließlich Massenmord an seinen Patienten in der Klagenfurter psychiatrischen Klinik begehen ließ. Auch der österreichische Universitätsprofessor Beiglböck, der für die tödlichen medizinischen Experimente an Roma und Sinti im KZ Dachau verantwortlich war, wollte sich mit dem Argument entlasten, „ich habe die Pflicht, als Offizier jeden Befehl durchzuführen.“ Wenn nun Österreicher heute argumentieren, dass ihre (Groß-)Väter und (Groß-)Mütter nur ihre Pflicht getan haben, werden diese Abwehrmechanismen fortgesetzt und dienen dazu, von der kollektiven Schuld am Morden abzulenken.
»ÖsterreicherInnen haben statt einer Aufarbeitung der Vergangenheit nur eine Vergangenheitsbewältigung betrieben.«
Inwiefern lassen sich Individual- und Kollektivschuld eben doch nicht trennen, und wie entkräftet man das so oft vorgebrachte Argument der Pflichterfüllung?
Die Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Schuld sind nicht immer eindeutig. Individuelle Schuld ist auch immer in einem kollektiven Kontext, der das Verbrechen ermöglicht, zu sehen. Die Krankenschwestern und Pfleger, die ohne Widerstand den PatientInnen die tödlichen Injektionen verabreicht haben, sowie die NS-Justiz, die Beschwerden von Familienangehörigen von ermordeten PatientInnen ignoriert hat, als auch die österreichische Bevölkerung, die über die Massenmorde informiert war, aber schwieg, ermöglichten Dr. Niedermosers Morde.
Sie ziehen Parallelen zwischen den Protesten gegen Bernhards Heldenplatz am Burgtheater in den 1980er-Jahren und der Debatte um das Haus der Geschichte, das derzeit in der Neuen Hofburg entsteht. Wo sehen Sie konkret Parallelen – und was hätte man beim Haus der Geschichte besser machen können?
In beiden Debatten wollten die Österreicher die positiven Elemente der österreichischen Geschichte auf die Bühne stellen beziehungsweise sie in einem Museum zeigen, um die negativen Elemente zu überdecken. In beiden Debatten findet man auch den Zyklus, der mit der Verweigerung der Verantwortung für die Beteiligung Österreichs an Nazigräueltaten beginnt, gefolgt von heftigen verbalen und sogar körperlichen Angriffen auf diejenigen, die drohen, Österreichs nicht so glorreiche jüngere Vergangenheit aufzuzeigen, und schließlich eine Umkehrung von Rollen, bei denen die Angreifer zu Opfer werden. In solchen Angriffen wird sogar NS-Vernichtungsterminologie verwendet – Bernhard wird als Nestbeschmutzer und Rathkolb als Volksschädling beschimpft. Was in Bezug auf das Haus der Geschichte besser laufen hätte können, ist, anstatt das Thema der österreichischen Kollektivschuld zu vermeiden, es als einen wichtigen Moment zu verwenden, um eine Debatte zu diesem Thema zu eröffnen.
Aktuell gibt es parallel zwei Phänomene: ein Ansteigen des Antisemitismus (des traditionellen und des muslimischen) sowie die zunehmende Ausgrenzung von Muslimen, beides ist sowohl in Deutschland als auch in Österreich festzustellen. Was ist da schief gelaufen?
Was schief gelaufen ist, ist, dass ÖsterreicherInnen statt einer Aufarbeitung der Vergangenheit nur eine Vergangenheitsbewältigung betrieben haben. Wenn man die Vergangenheit aufarbeitet, konfrontiert man sich mit individueller und kollektiver Schuld. Wenn man die Vergangenheit bewältigt, zielt das darauf ab, die Bücher über die Vergangenheit zu schließen, mit dem Ziel, diese zu vergessen. Aufarbeitung der Vergangenheit hilft Menschen, den Zyklus der Gewalt zu unterbrechen, während die Bewältigung der Vergangenheit nicht nur die alten Probleme intakt lässt, sondern auch eine Schicht von potenzieller Abwehr oder Aggression hinzufügt, wenn an die Vergangenheit erinnert wird. Der zunehmende Antisemitismus und die verstärkte Gewalt gegen Muslime sowie Roma und Sinti zeigen auf, dass hier die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wurde und das zum Überleben von antisemitischen Elementen in der österreichischen Demokratie beigetragen hat. Diese werden heute von rechten PolitikerInnen für ihre eigenen politischen Zwecke manipuliert. In Deutschland gibt es, mehr als in Österreich, eine Kultur der Aufarbeitung der Vergangenheit. Dennoch finden wir auch hier viele Fälle von Deutschen, die sich mit ihrer kollektiven Schuld nicht konfrontieren möchten.
Sie leben und arbeiten seit vielen Jahren in den USA. Braucht es diese Distanz, um die Situation in Österreich so klar und ungeschönt einzuschätzen?
Mein Leben in den Vereinigten Staaten und das wissenschaftliche Arbeiten in Englisch erlaubten mir eine gewisse Distanz, was für mich notwendig war, um über den schwierigen Gegenstand der österreichischen NS-Schuld zu schreiben. Die gewisse Distanz zu Österreich erlaubte mir, das zu bleiben, was ich als ein „subject-in-outline“ theoretisiere: Diese Idee beinhaltet, dass frau sich innerhalb der Spannung einer minimalen Identifikation mit einer politischen Kollektivität oder einer Nation bewegt, ohne sich vollständig mit der Nation zu identifizieren. Eine gewisse Identifikation mit der Kollektivität bleibt notwendig, um eine kollektive Schuld für die Verbrechen früherer Generationen zu fühlen. Allerdings muss die Überidentifikation vermieden werden, da dies zu defensiven Reaktionen führt, um unbewusste Schuldgefühle weiterhin zu unterdrücken. Da dadurch die eigene Identität nicht starr mit einer politischen Kollektivität verbunden ist, kann sie auch Kritik an der Kollektivität besser annehmen – da solche Kritik nicht die gesamte eigene Identität in Frage stellt.
Meine Distanz zu Österreich, die mir erlaubte, ein subject-in-outline zu bleiben, ist allerdings eine gewisse und nicht eine totale Distanz zu Österreich, da jede Vorstellung von einer Gesamtdistanz mir nicht erlauben würde, mich für die Gräueltaten Österreichs schuldig zu fühlen.
Darüber hinaus bedeutet eine solche Distanz nicht, dass mir Österreich nichts bedeutet. Meine Hoffnung ist vielmehr, dass mein Buch eine öffentliche Debatte entfacht, die es ÖsterreicherInnen ermöglicht, den langen und schmerzlichen Weg zu gehen, ihrer unterdrückten Schuld zu begegnen. Ich sehe das Buch als einen Versuch, einen Beitrag zur Schaffung eines besseren Österreich zu leisten.
Claudia Leeb, geb. 1968 in Vöcklabruck, studierte Psychologie an der Universität Wien sowie Gender Studies in New York. Sie ist Professorin für politische Theorie an der Washington State University sowie Autorin zahlreicher Bücher. Leeb lebt heute in den USA.