Verbundenheit mit Israel

Mein Israel. Szenen eines Landes: der Jüdische Almanach des Leo-Baeck-Instituts, herausgegeben von Gisela Dachs.

1829
Gisela Dachs (Hg.): Mein Israel. Szenen eines Landes. Jüdischer Almanach. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 184 S. mit Abb., 18,50 €

Abarbanel Street 28, Rehavia, Jerusalem. 45 Jahre war diese Adresse einer der Nabel der intellektuellen jüdischen Welt. Denn hier lebte bis zu seinem Tod 1982 Gershom Scholem. 1936 ließ er als Beruf ins Telefonbuch „Kabbalist“ eintragen. Heute bietet das Gebäude einen traurigen Anblick. 2013 muss es noch schlimmer gewesen sein. Der Garten völlig verwildert. Der Zaun brüchig. Die Historikerin Anja Siegemund kämpfte sich dorthin durch, wo sie einst von Scholems Witwe Fania empfangen worden war, in den Salon. Wo einst Bücherregale dicht an dicht standen – Schutt, aufgerissener Boden. Ein Ort der Verwüstung.

Was bleibt? Das ist die Frage, die sie in ihrem Beitrag in der jüngsten, der 25. Ausgabe des Jüdischen Almanach des Leo-Baeck-Instituts Jerusalem stellt. Was ist geblieben von den Welten der Jeckes, ihren Sehnsuchtswelten?

„Jeckischkeit“ steht ja heute in Israel für Positives.

Nun sind deren Einfluss und Wirkung kaum zu übersehen. In den Bauten Richard Kauffmanns, Erich Mendelssohns, Alexander Baerwalds. In der Hebräischen Universität. Und beim Technion. Und doch. Und doch ist es kein Zufall, dass das allererste Foto Naftali Hilgers im Almanach zwei Personen zeigt, die einen Bücherschrank, den berühmten „deutsch-jüdischen Bücherschrank“ (mit den Klassikern) nach Interessantem durchforschen. Ist, so Siegmund, „dies das hervorragendste ‚Erbe‘ der Jeckes: eine Chiffre für eine Bindestrichexistenz an sich zu sein, eine besondere Fähigkeit zur kulturellen und identitären Hybridität?“ Nicht nur. Sondern: unter anderem. Stärker war, argumentiert sie überzeugend, die Verbundenheit mit Israel, dem israelischen Alltag, in dem die Jeckes lebten. „Jeckischkeit“ steht ja heute in Israel für Positives. Ihre Vereinigung listet in ihrer Agenda Begriffe wie Arbeitsmoral, Leistung, Erziehung und Kultur auf.

Beiträge über das Erinnern und Bewahren. Andrea Livnat schneidet Erinnerungen von Olim aus dem Jahr 1936 parallel mit dem heutigen Tel Aviv (und dem Chamsin). Der Journalist Raphael Ahren, aus Köln nach Jerusalem ausgewandert, berichtet, wie er sich erstmals über das Tagebuch seines Großvaters beugte, der am 10. November 1938 verhaftet worden war. In seinen Aufzeichnungen dokumentierte dieser plastisch Folter, Torturen, Sadismus. Informativ ist der Essay des Archivars Stefan Litt über die israelische Nationalbibliothek und ihre Schätze. Etwa Dokumente des deutsch-jüdischen Literaturagenten Carl Ehrenstein, der in den 1920er-Jahren in England Hans Fallada den Weg zu Verlagshäusern ebnete. Eine gar nicht kleine Korrespondenz, eine alles andere als unwichtige Beziehung. Im Fallada-Nachlass im mecklenburgischen Carwitz findet sich davon nichts mehr. Nur in Jerusalem. Litt sah die Ehrenstein-Papiere durch, als 2011 gerade Falladas Jeder stirbt für sich allein in Israel zum Bestseller avancierte. Auch über die Stefan-Zweig-Sammlung schreibt Litt mit Enthusiasmus. Schließlich liegt in Jerusalem das einzige erhaltene Typoskript von Die Welt von Gestern.

Und auch Poesie ist wie gewohnt vertreten. In seinem Zyklus Ein Gast zur Nacht reagiert Amir Eshel auf einen Gedichtband S. J. Agnons aus dem Jahr 1939, der die Rückkehr eines Juden aus Palästina in seine galizische Geburtsstadt zum Thema hat. Eshels Lyrik ist leicht verständlich, dabei gewichtig. „Er ist weder Gast/noch Fremdling“, heißt es da. „Geschwind migrierender Vogel/Kerbtier/das eine dünne Spur im Staub hinterlässt.“

Johannes Becke denkt über Enklave und Enklavencharakter nach – Ehud Barak sprach ja einmal von Israel als „einer Villa im Dschungel“, der Historiker Dan Diner fasste es als „herausgerissenes Stück altes Mitteleuropa“. Becke rückt mit Bezug auf Popmusik, Populärkultur, Lebensalltag diese Bilder anregend zurecht. Und – und zugleich ein Lob! – zum Widerspruch aufregend.

Shira Pur widmet sich in einem aus Haaretz übernommenen Artikel dem Kova Tembel. Der praktische Sonnenhut aus dem Hause Ata war im letzten Oktober in der großen Modeausstellung im New Yorker Museum of Modern Art prominent vertreten. Hikmieh Yassin Egbarieh beschreibt Er-
greifenderes, die psychologisch-therapeutische Betreuung schwer traumatisierter Kinder, die dem syrischen Bürgerkrieg entkamen, im Spital in Zfat. Die Programmiererin Tzippy Yarom erzählt von ihrer „Generation Y“, ultraorthodoxen Charedim, die IT-Nerds und sehr aktiv in sozialen Netzwerken unterwegs sind. Ofri Ilany schreibt über Schwulsein und die LGBT-Community, Yael Munk informativ über die misrachische Frau im israelischen Film seit den frühen Sechzigern.

Der Ausklang fällt etwas ab. Der Text der Deutschen Sarah Stricker, die seit 2009 in Israel lebt, trifft im analytischen Vergleich von Deutschland (mitzudenken: Österreich) und Israel vieles. Doch der arg bemüht lockere Duktus lässt es verläppern. Alles in allem ein gelungenes szenisches Panorama der vielen Facetten Israels zwischen Bücherschrank und Beach.

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