Verjagte Lehrer und Forscher

Gleich nach dem „Anschluss“ 1938 schlug an den Wiener Universitäten die Stunde der Nazis. Jüdische und politisch anders denkende Professoren verloren ihre Stellungen und die österreichische Wissenschaft ihre Dynamik – auf Jahrzehnte.

1678
Herwig Czech und Christiane Druml. Die Direktorin und der Kurator der Ausstellung mit „der Tasche“ im Hintergrund. © Reinhard Engel

Eine Tasche. Eine abgewetzte schwarze lederne Arzttasche. Sie begleitete Dr. Ernst Adler in die Emigration nach Edinburgh. Aber die Tasche steht auch stellvertretend für eine ganze Generation von im Jahr 1938 aus Wiener Hörsälen vertriebenen akademischen Lehrern.
♦Sie steht etwa für Dr. Viktor Hammerschlag. Er lehrte viele Jahre als habilitierter Privatdozent für Ohrenheilkunde an der Wiener Medizinischen Fakultät. Hammerschlag wurde 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, wo er und seine Frau 1943 starben.
♦ Sie steht auch für Dr. Rudolf Neurath. Er arbeitete als Kinderarzt in verschiedenen Ambulatorien und Spitälern sowie als städtischer Jugendarzt und lehrte als Dozent an der Wiener Medizinischen Fakultät Kinderheilkunde. Zwar gelang ihm 1939 die Emigration über England in die USA, aber wegen eines schweren Herzleidens konnte er dort nicht mehr als Arzt tätig werden. Er starb 1947 in New York.
♦Und die Tasche steht symbolisch für Dr. Josef Gerstmann. Er stammte ursprünglich aus Galizien, studierte in Wien Medizin und diente im Ersten Weltkrieg als Sanitätsoffizier für Nerven- und Geisteskrankheiten in einem Heeresspital an der italienischen Front. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst unter Julius Wagner-Jauregg an der psychiatrisch-neurologischen Klinik. Er habilitierte sich, und im Jahr 1929 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen. Kurz darauf übertrug man Gerstmann die Leitung der Nervenheilanstalt Maria-Theresien-Schlössel. 1938 verlor er diese Position ebenso wie seine Lehrberechtigung an der Universität.

»Es war ein unglaubliches geistiges Potenzial.
Diese Forschungen setzten sie dann in ihren jeweiligen Exilländern um, leisteten dort bedeutende wissenschaftliche Beiträge.«

Herwig Czech

Gerstmann emigrierte in die USA, wo es ihm gelang, nach anfänglich unbezahlter Arbeit wieder in seinem ursprünglichen Bereich Fuß zu fassen. So heilte und forschte er unter anderem am Springfield/Ohio State Hospital, am St. Elisabeth’s Mental Hospital in Washington, D.C., am New York Neurological Institute sowie am dortigen Post Graduate Hospital. Er starb 1969 in New York.

Nationalsozialistische Studenten demonstrieren im November 1938 auf der Treppe der Uni Wien. © Mary Evans / picturedesk.com; Weltbild / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Wer mehr über die Tasche und die vertriebene medizinische Intelligenz Wiens erfahren möchte, kann dies noch bis zum Jahresende im Josephinum tun. Denn die Sonderausstellung Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945 wird bis 29. Dezember 2018 verlängert, eventuell sogar bis Jänner. Christiane Druml, Direktorin des Josephinums: „Wir beginnen im kommenden Jahr größere Renovierungen. Danach wird es diese Ausstellung aber sicher in anderer Form längerfristig wieder geben.“
Was geschah im Frühjahr 1938 an den Wiener Universitäten? Juden und Regimegegner wurden recht schnell – teils wirklich über Nacht – von ihren Positionen im Lehrbetrieb entfernt, Nazis hielten schon Tage nach dem „Anschluss“ ihre Antrittsvorlesungen vor begeisterten Parteigängern. „Wir haben uns auf die Habilitierten in der Medizinischen Fakultät konzentriert“, erzählt Herwig Czech, Kurator der Ausstellung. „Das waren damals etwa 175 von 300, die gehen mussten, also mehr als die Hälfte aller Professoren und Dozenten.“ Es handelte sich mehrheitlich um Juden, dazu kam eine geringere Zahl von Anhängern der Austrofaschisten, die Sozialdemokraten waren schon in den Jahren davor hinausgedrängt worden. Weiters betraf es allein an der Medizinischen Fakultät rund 1.000 Studierende, die nicht weiterlernen durften, einige wenige schafften noch einen Notabschluss.

Semesterbeginn an der Wiener Universität 1938. Antrittsvorlesung des neuen Dekans der Medizinischen Fakultät in SA-Uniform.
© Mary Evans / picturedesk.com; Weltbild / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Wohl gelang einer großen Zahl der Ärzte die Emigration, ihre Berufsausbildung war auch anderswo anwendbar, manche kannten Fachkollegen in anderen Ländern. Aber bei Weitem nicht alle schafften dann den Wiedereinstieg in ihr Metier. „Allerdings gab es unter ihnen eine erstaunliche Dichte von Forschern, wirkliche Pioniere in ihren Feldern“, weiß der Kurator. „Es war ein unglaubliches geistiges Potenzial. Diese Forschungen setzten sie dann in ihren jeweiligen Exilländern um, leisteten dort bedeutende wissenschaftliche Beiträge.“ Der Standard beschrieb dies als „tiefen Fall einer weltberühmten Fakultät“, die – hätte es damals Rankings gegeben, „gewiss unter den ersten fünf der Welt platziert gewesen wäre“.
Und auch nach dem Krieg sollte es bei dieser Lücke bleiben. Zwar gab es zunächst unter Druck der Alliierten ernst gemeinte Entnazifizierungsaktionen. Etwa die Hälfte der Wiener Ärzte war als Nazis sowohl vom allgemeinen Wahlrecht als auch von jenem zur Ärztekammer ausgeschlossen, eine Reihe von ihnen wurde im Salzburger Lager Glasenbach interniert. Doch diese Strenge hielt nicht lange an, man brauchte die Ärzte, und auch die Politik begann, die Ehemaligen zu integrieren.
Wen man nicht zu brauchen schien, das waren die vertriebenen Juden. In einem offenen Brief ließ sie der Präsident der Ärztekammer wissen, dass Wien bereits „überarztet“ sei, „die jüdische Klientel“ existiere nicht mehr, daher sollten sie sich gut überlegen, ob sie die Rückkehr auf sich nehmen wollten. Nur wenige taten dies, etwa die beiden Psychiater und Neurologen Viktor Frankl und Hans Hoff.

Die Vertreibung beschränkte sich freilich nicht auf die Mediziner. Über 2.700 vorwiegend jüdische Angehörige der Universität Wien – Lehrende, Studierende und Verwaltungsmitarbeiter – wurden 1938 hinausgeworfen. Und diese Vertreibung ging rasch und reibungslos vonstatten. Sie verlief nach dem gleichen Muster wie zuvor in Deutschland, nur wesentlich schneller, innerhalb weniger Monate und unter reger Beteiligung der NS-nahen Studierenden, Beamten und Professoren.
Das ging überall ähnlich schnell wie bei den Medizinern. Bereits in den ersten Tagen nach dem „Anschluss“ wurden einige unerwünschte Mitarbeiter verhaftet oder außer Dienst gestellt. Am 22. März 1938 mussten alle dazu berechtigten ordentlichen und außerordentlichen Hochschulprofessoren einen Eid auf Hitler ablegen. Dabei waren Personen, die als „Volljuden“ oder „Mischlinge“ mit drei jüdischen Großeltern galten, davon ausgeschlossen, ebenso bekannte politische Gegner.
Und auch die systematische Erfassung und „Säuberung“ des Lehrkörpers von politisch oder „rassisch“ missliebigen Personen ließ nicht lange auf sich warten. Sie erfolgte unmittelbar nach der Volksabstimmung am 10. April 1938 auf Basis von Listen, welche praktischerweise gleich die Dekanate erstellt hatten. Im Mai 1938 traten die Nürnberger Rassegesetze von 1935 in Kraft und dazu die Verordnung zur „Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ – das Gegenstück zum deutschen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“.
Ähnliches galt an der damaligen Wiener Technischen Hochschule. Der „Anschluss“ brachte auch für die heutige TU gravierende Einschnitte: Innerhalb der ersten Tage und Wochen wurden nach dem Rücktritt des damaligen Rektors zwei der fünf Dekane sowie 13 Professoren und zwei Assistenten ihrer Ämter oder Stellen enthoben und durch Nationalsozialisten ersetzt. Weitere elf Privatdozenten und sieben Honorardozenten verloren ihre Lehrbefugnis, drei Lektoren traten von ihren Lehraufträgen zurück. Insgesamt mussten damit etwa zehn Prozent des Lehrkörpers der TH Wien aus politischen oder „rassischen“ Gründen ausscheiden.
Was die Wiederkehr der vertriebenen Intelligenz betraf, so war das Bild auch in anderen Disziplinen jenem an der Medizinischen Fakultät nicht unähnlich: Nur wenige kamen nach Österreich zurück. Als Beispiel möge die Juridische Fakultät dienen. Das waren dort etwa Adolf J. Merkl, Ludwig Adamovich Senior oder Willibald Maria Plöchl. Demgegenüber wurde nur ein kleiner Teil der in der NS-Zeit lehrenden Professoren nach 1945 auf Dauer von der Universität entfernt – etwa der 1938 bis 1945 amtierende Dekan Ernst Schönbauer. Der Kurator der Mediziner-Ausstellung Czech fasst das knapp so zusammen: „Es hätte wohl die Chance gegeben, qualifizierte Leute zurückzuholen. Man hat es nicht getan. Es war eine mutwillige Selbstprovinzialisierung, und zwar unter der Ägide der Konservativen. Diese wollten vor allem ihre von den Nazis abgesetzten Parteigänger wieder in Positionen bringen.“

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