WINA: Herr Bugnyár, Sie sind seit mehr als 20 Jahre in Jerusalem. In all diesen Jahren in Israel gab es bereits Krieg in Gaza gegen die Hamas, im Norden gegen die Hisbollah. Es gab Intifadas, die hier in Jerusalem, am Tempelberg, ihren Ausgang nahmen. Und es gab und gibt regelmäßig Gewalt und Gegengewalt an der Mauer. Raketenbeschuss und Terroranschläge gehören zum Alltag. Jerusalem scheint im Moment aber vergleichsweise ruhig …

© Wikipedia/ AustrianHospice

Markus Stephan Bugnyár: Ja, das ist erstaunlich, warum auch immer das so ist. Da gibt’s Leute, die sagen, ok, die Palästinenserregierung unter Abbas hat die Lage doch mehr unter Kontrolle, als man geglaubt hat. Dann gibt es Leute, die sagen, wirklich überraschend ist das nicht, weil diese Auseinandersetzungen ja schon die letzten Monate über in der Westbank stattgefunden haben, als man versuchte, die Terrorzellen in Dschenin auszuheben – was ja auch nur ein Hinweis darauf ist, dass Abbas keinen Einfluss mehr hat außerhalb von Ramallah … und trotzdem bleibt es ruhig! Vielleicht, weil man sieht, was im Gazastreifen passieren wird und sich ein ähnliches Schicksal halt ersparen möchte.

Während wir sprechen, hat die israelische Armee mit ersten Bodeneinsätzen in Gaza begonnen. Nach einschlägigen Hamas-Aufrufen hat es zuletzt – nicht nur in muslimischen Ländern – hasserfüllte antisemitische Demonstrationen Gewaltbereiter zur Unterstützung der Hamas gegeben. Jüdische Gemeinden weltweit fürchten um ihre Sicherheit. Wie erleben Sie das alles? Wie geht es den Menschen in Ihrer Umgebung?
Das Hospiz liegt, wie Sie wissen, im arabischmuslimischen Viertel der Altstadt von Jerusalem, und wenn wir hier in Jerusalem einen Raketenalarm haben, dann laufen die Menschen in Westjerusalem zum nächsten Shelter, und in Ostjerusalem gehen die Menschen auf die Straße, steigen auf die Dächer und schauen den Raketen beim Fliegen zu …. Das heißt, ich kann mir dann überlegen: Was mache ich? Also ich fühle mich nicht bedroht – das liegt an der Altstadt, an der Nähe zu den Heiligen Stätten, und ich denk’ mir mal, auch die Hamas wird jetzt nicht so blöd sein, auf die Altstadt von Jerusalem zu schießen. Was mich erstaunt …, hier ist kein Sensorium vorhanden für die Dramatik der Situation, für das Ausmaß, für die Tragik. Ich glaube, die Leute hier in Ostjerusalem – und vielleicht auch in der Westbank – haben noch nicht verstanden, dass die Hamas den Bogen massiv überspannt hat und hier eine vollkommen neue Situation entsteht.

 

Ich denk’ mir mal, auch die Hamas wird jetzt nicht so blöd sein,
auf die Altstadt von Jerusalem zu schießen.

 

Wie stark unterstützt insbesondere die Bevölkerung von Gaza die Hamas?
Wir wissen alle, wie es zu der Entwicklung im Gazastreifen gekommen ist … (Hamas gewann die Wahl 2006, schaltete 2007 in einem blutigen, bürgerkriegsähnlichen Putsch die Fatah aus und etablierte in der Folge ein islamistisch-totalitäres System, Anm. d. Red.) …und wissen auch, dass 54 Prozent der Bevölkerung von Gaza unter 30 Jahre alt sind. Das ist eine Milchmädchenrechnung: Viele der jungen Leute kennen nichts anderes als die politische Realität der Hamas. Das heißt nicht, dass sie das automatisch gut finden, aber es ist ein Faktum, dass sie kaum irgendwelche Alternativen kennen. Die einzige Alternative, die sie kennen, ist eine als korrupt wahrgenommene Fatah-Regierung in Ramallah, und das ist offensichtlich keine Alternative für sie – so, wie es in der Westbank viele Unterstützer der Hamas gibt aus demselben Grund: Nicht, weil man die Hamas so super findet und man sich selbst im militärischen Widerstand wiederfinden möchte, sondern weil man die Fatah-Regierung in Ramallah abmahnen und loswerden möchte. Also die Unterstützung für die Hamas ist definitiv vorhanden. In welchem Ausmaß – in Gaza oder der Westbank –, das wäre Kaffeesudlesen.

 

Wenn die ersten Bilder über die Zerstörungen
und die toten Kinder in Gaza kommen,
wird die Stimmung kippen.

 

Mit der Hamas ist Israel seit den Massakern vom 7. Oktober im Krieg. Ist auch die israelische Gesellschaft im Ausnahmezustand?
Emotional ganz sicher …. Die Israelis kommen aus dieser Erfahrung einer jahrhundertelangen Verfolgung und Ausnahmesituation, aus der Erfahrung des Holocaust mit der festen Absicht, hier in Israel eine Heimstatt zu haben, in der sie, anders als in der restlichen Welt, tatsächlich in Sicherheit leben können …. Gleichzeitig wissen viele Menschen hier …, wenn die ersten Bilder über die Zerstörungen und die toten Kinder in Gaza kommen werden, die unvermeidlich sind, weil die Hamas ihre eigenen Leute als Schutzschilde verwendet – und wenn die israelische Armee auch noch so sehr warnt –, dass in diesem Moment die Stimmung kippen wird, denn so etwas wie Sympathie, Verständnis nach den Hamas-Massakern, das hält vielleicht zwei, drei Tage, wenn überhaupt. Und wenn einmal die Zahl der Toten (in Gaza, Anm. d. Red.) höher ist als die der eigenen Toten, dann wird sich die Frage der Proportionalität stellen – und die wird immer zu Ungunsten Israels ausgehen …. Und jeder wird sich seinen eigenen Reim darauf machen, und in diesem Reim wird Israel keinen Platz haben in der internationalen Wahrnehmung. Und Israel wird einmal mehr lernen, dass, wenn es sich nicht selber schützt, es genau niemand anderer tun wird.

 

All diese selbsternannten Experten, die glauben, sie wissen es besser,
nur weil sie zwei Mal in der Woche ZIB 2 schauen,
sollen bitte endlich den Mund halten!

 

Wird also das Leiden immer weitergehen? Bleibt nach dem 7. Oktober 2023 Frieden endgültig bloß ein frommes Wort? Die Zwei-Staaten-Lösung gilt jedenfalls als „beerdigt“…
Diese Zwei-Staaten-Lösung! Manche sagen: Würde es diese zwei Staaten schon geben, dann wäre das nicht passiert. Das ist Blödsinn! Israel hat sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Da hätte man auch sagen können, ok, unter welchem Besatzungszustand leiden die eigentlich? Die könnten friedlich hier nebeneinander, miteinander leben! Also, der freiwillige Rückzug hat nichts gebracht, und deshalb ist es auch so schwierig, irgendeinem Israeli zu erklären, warum man sich aus der Westbank zurückziehen soll, wenn das Beispiel Gaza schon zeigt, dass man trotzdem nicht in Frieden leben kann. Und diese Zwei Staaten Lösung krankt auch daran, dass die palästinensische Gesellschaft in sich gespalten ist zwischen Gaza und der Westbank, zwischen Fatah und Hamas. Und wer immer das will, muss einmal für einen innerpalästinensischen Versöhnungsprozess sorgen. Und man müsste auch darüber nachdenken, wie demokratiefähig eine Gesellschaft ist, wenn man sie über viele Jahrzehnte nicht wählen lässt, und die Wahl nur als Instrument verstanden wird, um einer politischen Kaste die Meinung zu geigen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Also müsste man definitiv mehr in Bildung investieren. Und da haben Sie schon das nächste Problem, denn: Wer soll das machen? Wenn es der Westen macht, wird es sofort heißen von palästinensischer Seite, die versuchen ja nur, uns ihr Weltbild aufzudrücken … Also ich glaube, wenn es eine Lösung gibt, dann muss diese hier vor Ort von Israelis und Palästinensern gemeinsam erarbeitet werden. Und all diese selbsternannten Experten, die glauben, sie wissen es besser, nur weil sie zweimal in der Woche die ZIB 2 schauen, sollen bitte mal endlich den Mund halten. Hier wird nichts Bestand haben als Lösung, was Europa oder die EU, die Amerikaner oder sonst wer den Leuten oktroyieren!

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