Wer darf in Israel töten?

Wann ist Mord gerechtfertigt, und wer sollte mildernde Umstände bekommen? Dieses Thema war Zündstoff für hitzige Diskussionen in diesem heißen Sommer.

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Elor Azaria, ein 20 Jahre alter Soldat, der im März 2016 einen bereits außer Gefecht gesetzten palästinensischen Terroristen mit einem Kopfschuss tötete, muss nun seine Haftstrafe antreten. Das hat das Gericht im August entschieden. Er wurde wegen Totschlags verurteilt und muss für 18 Monate in das Militärgefängnis Tzrifin. Dieser Fall war im letzten Jahr in den Medien omnipräsent.
Weniger allgegenwärtig im öffentlichen Diskurs sind die Fälle jener Frauen, die in Israels Frauen­gefängnis Neve Tirza eine Haftstrafe wegen Totschlags absitzen. Momentan sind im einzigen Frauengefängnis Israels in Ramle ca. 160 Insassinnen. Ein Großteil sitzt wegen Diebstahls oder Drogendelikten – einige wenige wegen Mord. Tamar Dahan, eine Doktorandin der Universität Tel Aviv, hat sich dieser Gruppe angenommen und sprach mit jenen Frauen, die wegen Totschlags an ihren Ehemännern verurteilt wurden und eine Haftstrafe von 20 bis 30 Jahren absitzen müssen.
Angefangen hat es mit einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit an der Fakultät für soziale Arbeit, aber dabei ist es nicht geblieben. Ab dem Moment, wo Tamar Dahan die Insassinnen zu ihrem Strafdelikt befragte, war ihr klar, dass diesen Frauen Unrecht geschieht und dass dieses Thema nicht in den Regalen der Universität verstauben darf.

Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe
sind immer noch
Tabuthemen.

Dahan, die zwei Jahre in Wien gelebt hat, erzählt von ihren Eindrücken in Neve Tirza: „Eine der Insassinnen sagte zu mir: Du bist die erste Person in 20 Jahren, die mich fragt, warum ich das getan habe. Ich sehe mich nicht als Mörderin, ich habe davor nie etwas Kriminelles gemacht, ich musste mein Leben verteidigen.“

Die Knesset-
Abgeordnete Michal Rozin (li.) mit Tamar Dahan im israelischen Fernsehen. Gemeinsam kämpfen sie für die Frauen von Neve Tirza.

Alle Befragten waren Opfer häuslicher Gewalt. Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe sind immer noch Tabuthemen. Diese Frauen haben sich allesamt vor ihrer Tat bereits an Behörden und Frauenhäuser gewandt, doch auch diese konnten die Frauen nicht vor ihren gewalttätigen Männern schützen. Tamar Dahan hat sich vorgenommen, für diese Frauen zu kämpfen und zu versuchen, die Gesetzeslage zu ändern. Vor dem Gesetz gelten sie nämlich als Mörderinnen, da sie ihre Partner nicht in den Situationen der Notwehr ermordet haben.
„Als Notwehr gilt es erst, wenn der Mann versucht, sie umzubringen. Und dann ist es oft schon zu spät. Diesen Sommer wurden in einer Woche vier Frauen von ihren Männern umgebracht“, erzählt sie.
Neben der Arbeit an ihrer Dissertation ist Dahan Sozialarbeiterin und betreut Prostituierte und Gewaltopfer: „Ich musste mit dieser Information etwas machen, ich hatte das Gefühl, ich bin es den Frauen im Gefängnis schuldig.“
Sie schrieb an etliche Knesset-Abgeordnete, doch nur Michal Rozin, Abgeordnete der linken Meretz-Partei, war an einer Zusammenarbeit interessiert. Sie lud Tamar Dahan ein, ihr Anliegen in der Knesset vorzustellen.
„Das Ziel einer Gesetzesänderung ist nicht unmöglich, in England wurde es schon durchgesetzt“, berichtet Dahan. Nach ihrem Besuch in der Knesset folgten weitere Auftritte in den Medien, um das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen.
Die „Mörderinnen“ von Neve Tirza wandten sich an den Präsidenten, Reuven Rivlin, um ihre Haftstrafe aufgrund mildernder Umstände zu verkürzen. Doch dafür braucht es auch die Zustimmung der Richter. Und diese lehnten das Ansuchen ab.

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