„Wir wuchsen auf mit einem leuchtenden Stern über uns, dem roten kommunistischen oder dem blauen jüdischen oder beiden.“
Die Eltern haben überlebt. Verfolgung, Emigration, Widerstandskämpfe, Untergrund, Illegalität und KZs. Und irgendwann nach dem Krieg kehrten sie zurück nach Österreich, die Kommunisten, um das Land neu aufzubauen und ihre Kinder hier großzuziehen, meist „ohne religiöses Bekenntnis“, denn „das Judentum war abgelebt, eine Religion wie jede andere und für Kommunisten unerheblich“. Früher oder später kehrten diese Kinder dann doch zurück zu ihren jüdischen Wurzeln, die ihnen lange verborgen wurden.
Schon 2018 hatten Ruth Wodak und Ernst Berger für ihr Buch Die Kinder der Rückkehr diese in Interviews soziopsychologisch untersucht. Helene Maimann geht von ihrer eigenen Person aus einen anderen, subjektiven, emotionalen Weg, der allerdings die Zeithistorikerin, die sie ist, nie verleugnen kann. Und auch nie die Freundschaft zu all den Schicksalsgenossen, mit denen sie vielfach Kindheit und Jugend teilte. Eine langjährige Freundschaft verbindet auch mich mit „der Helly“, und obwohl ich doch ganz anders aufgewachsen bin, hat sie auch mich zum Überleben meiner Eltern befragt, und wir haben viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Als Rezensentin kann ich daher nicht ganz unbefangen sein.
Einige ihrer Protagonisten wie Robert Schindel, André Glucksmann oder Paul Haber sind noch mitten im Krieg oder knapp vor dessen Ende geboren, viele aus ihrem engsten Freundeskreis hatten aber wie sie die „Gnade der späten Geburt“ und durften in einem freien Land mit allen Entfaltungsmöglichkeiten der Wirtschaftswunderzeit aufwachsen.
Prägungen und Tabus. Helly, wie sie uns in ihren Erinnerungen erscheint, ist ein neugieriges Kind, eine wissbegierige Leseratte, ein abenteuerlustiges, rebellisches Mädchen. In linken Jugendorganisationen, in Ferienlagern ideologisch sozialisiert, lebt sie mit ihrer Familie quasi in einer linken Blase, in Altmannsdorf, am Rand der Stadt und der Mehrheitsgesellschaft. Ihre aus der englischen Emigration zurückgekehrten Eltern bewegen sich privat durchwegs im Milieu Gleichgesinnter, junge, aufstrebende, politisch alerte Familien, für Helly der Ersatz der fehlenden Verwandten. Denn im Schatten des leuchtenden Sterns gibt es viele Tabus und ein großes Schweigen. Wo sind die Großmütter hingekommen, deren Fotos im Schlafzimmer stehen? „Umgekommen“ waren sie, wie es damals immer heißt, und die Kinder stellen keine weiteren Fragen. Bis es irgendwann auch für Helly klar ist: „Wir sind ja Juden.“ Von da an verschlingt sie alles an einschlägiger Literatur, das ihr in die Hände kommt, und das scheint für die damalige Zeit nicht gerade wenig gewesen zu sein.
Schon früh entwickelt sich die spätere Historikerin zu einer Materialsammlerin und Chronistin ihres eigenen Lebens. Alles hebt und zeichnet sie auf und verfügt so im Laufe der Jahre über ein „Archiv des Entzückens und des Grauens“, aus dem sie schöpfen und nach langen Wehen in der Konfrontation mit der zum Teil auch schmerzlichen Vergangenheit letztlich dieses Buch zur Welt bringen kann.
Einer strengen Chronologie unterwirft sie sich schon allein deshalb nicht, weil ihr eigener Lebenslauf immer wieder mit den Biografien ihres engeren und weiteren Bekanntenkreises abgeglichen wird. Zu Letzterem zählen dann auch Prominente, die ihr als Dokumentarfilmerin begegnen, wie etwa Arik Brauer oder Toni Spira, ja sogar Bruno Kreisky.
Am berührendsten und aufschlussreichsten für das spezifische Biotop, das sie prägte und von dem ja die Rede sein soll, sind die intensiven Beziehungen zu den Kindheits- und Jugendfreunden. In der ihr eigenen hartnäckigen Dialogführung lockt sie aus ihnen viel Verdrängtes heraus, frühe Traumata, die zum Teil schrecklichen Überlebensgeschichten der Eltern und die oft nur vage überlieferten tragischen Schicksale der Opfer, individuelle und kollektive Erinnerungen.
„Wir wuchsen auf mit einem leuchtenden
Stern über uns, dem roten kommunistischen
oder dem blauen jüdischen
oder beiden.“
„Kinderjause“. Als sie alle beinahe oder schon im Pensionsalter sind, kommt es in Wien zu einem Treffen von etwa hundert aus der großen Clique, das inzwischen als erste „Kinderjause“ fast schon legendär geworden ist. Weitere Kinderjausen folgten, und ein Netzwerk entstand.
Denn die Nachkommen einer „verlorenen Generation“, wie es Hellys Vater Martin Maimann rückblickend erkannte, die in ihrer Parteihörigkeit glaubte, „das Richtige zu tun“, haben es alle irgendwie geschafft. Sie sind etwas geworden, in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Medien. Unter zahlreichen anderen Psychotherapeutinnen wie Berta Pixner oder Selfmade-Men wie der Taschendesigner Robert Horn und der noch in Kasachstan geborene Musiker und Kultur-Multi Edek Bartz. Von der Ideologie ihrer Eltern befreit, schlossen sich einige „Kinderjausner“ später sogar noch den Maoisten an, wie überhaupt eine revolutionäre Schlagseite, kämpferisches politisches Engagement, ein Merkmal der Clique zu sein scheint. Bei Demonstrationen, ob gegen Waldheim oder die chilenische Militärjunta, ist Helly, studentenund frauenbewegt, an vorderster Front dabei. Ihr Aufmarschgebiet dehnt sie über die diversen europäischen Hotspots von Paris bis nach Indochina aus.
Wir haben einst gemeinsam studiert, doch wenn ich heute ihr Buch lese, kommt mir vor, wir wohnten auf verschiedenen Sternen und ihrer leuchtete viel heller. Die Musik der Zeit und ihre Protagonisten, von den Schmetterlingen bis zur beginnenden Klezmerei mit Geduldig un Thimann, die Avantgarde der Subkultur, des Films, die verrauchte bis verruchte Lokalszene, all das hat Helly als leidenschaftliche Zeitgenossin miterlebt. Und weil sie beizeiten viel notiert, gesammelt und später recherchiert hat, kann sie historisch kompetent und gleichzeitig wunderbar empathisch davon erzählen. Entstanden ist so ein schillerndes Gesellschaftspanorama, von den biederen Fünfzigern ausgehend zur Aufbruchszeit in den späten 1960er- bis 1970er-Jahren, und das Generationenporträt einer besonders bewegten Jugend. Helene Maimann ist ihre Chronistin und Zeitzeugin.
VERANSTALTUNGSTIPP
Journalist Harry Bergmann spricht mit Autorin Helene Maimann im Literaturcafé der IKG.KULTUR.
Ort: Gemeindezentrum der IKG Wien, Seitenstettengasse 2
Einlass: 17:30 Uhr.
Die Teilnahme ist nur nach Anmeldung bis 17. November möglich.
Aus Sicherheitsgründen bitten die Veranstalter einen Ausweis mitzunehmen.