Zu Fuß durch die Jahrhunderte

Bei den „Jewish Vienna Guided Tours“ führen Experten durch die „Must See Sites“ des jüdischen Wien. Ein Rundgang mit Walter Juraschek.

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Walter Juraschek. „Ohne den jüdischen Beitrag in Kunst, Kultur und Wissenschaft wäre Wien nicht das, was es heute ist.“ © Konrad Holzer

Treffpunkt für alle Touren ist der Book Shop Singer, ein neuer zentraler Hotspot im Herzen Wiens, wo die vielseitig engagierte Buchhändlerin Dorly Singer nicht nur Kaffee und koschere Imbisse, sondern auch Auskünfte betreffend das jüdische Leben der Stadt anbieten kann. In ihrem „Info Point Jewish Vienna“ warten Interessierte, die sich für ganz spezifische Stadtführungen angemeldet haben, oder werden bereits erwartet, zum Beispiel von Walter Juraschek, einem staatlich geprüften Fremdenführer.
„Ich bin Guide, das Wort Führer kommt natürlich nicht infrage“, lacht der gebürtige Deutsche, der seit 1980 in Wien lebt. Gemeinsam mit einem Pool von rund einem Dutzend KollegInnen bestreiten sie die „Jewish Vienna Guided Tours“ in mehreren Sprachen neben Deutsch, Iwrit, Englisch etwa auch Französisch, Spanisch, Russisch oder Niederländisch.
Nach einem Studium unter anderem der Geschichte und Ethnologie arbeitete Juraschek in Wien bei jüdischen Flüchtlingsorganisationen wie HIAS, bevor er hier die zweijährige Ausbildung zum Fremdenführer absolvierte. „Der jüdische Schwerpunkt kam dann von ganz alleine.“

»Bis 1938 wurde der Goldene Saal im Musikverein
zu Jom Kippur von der Kultusgemeinde für die ‚Eintagesjuden‘ gemietet.«

Walking Tour. Schon innerhalb der Buchhandlung kann man an einer Begrenzungswand Reste der alten Stadtmauer bewundern, bevor die eigentliche Walking Tour an der Ecke zur Seiten­stettengasse mit einem kurzen Überblick über die jüdischen Gemeinden in den verschiedenen historischen Epochen beginnt. Und Juraschek macht den Gästen gleich eingangs klar: „Ohne den jüdischen Beitrag in Kunst, Kultur und Wissenschaft wäre Wien nicht das, was es heute ist.“
Mehr als fünf Minuten darf es stehend nicht dauern, meint er, und nach der kurzen Frage „Woher kommen Sie?“ an die einzelnen TeilnehmerInnen der oft bunt zusammengewürfelten Gruppe weiß der erfahrene Guide bereits Bescheid, was er voraussetzen bzw. „wo ich die Menschen abholen kann. Es ist eine besondere Herausforderung, die Gruppe zu vereinheitlichen, manche wissen mehr, manche weniger.“
Auch interessierten WienerInnen, die sich einer Führung anschließen, sei oft nicht bewusst, dass fast die Hälfte der Palais an der Ringstraße von jüdischen Bauherren beauftragt wurden. Und ohne jüdisches Kapital wären auch „drei Perlen der Stadt, die Karlskirche, die Nationalbibliothek und das Schloss Schönbrunn nie zustande gekommen“, erläutert Juraschek die Bau- und Finanzgeschichte dieser offensichtlich nicht jüdischen touristischen Landmarks.

© Konrad Holzer

Die erste Station ist dann der Morzinplatz, wo sich im einstigen Hotel Metropol das Gestapo-Hauptquartier befand. Vor Ort wird unter anderem die Entwicklung des Austrofaschismus erklärt und auf die wenig bekannte Tatsache hingewiesen, „dass hier die Hitler-Faschisten auch die Austrofaschisten eingesperrt hatten“. Auch die Prominententransporte, bei denen nahezu das gesamte Leitungspersonal der IKG deportiert wurde, kommen zur Sprache, wobei Juraschek generell darauf achtet, „dass die Führungen nicht zu Schoah-lastig ausfallen, denn die Schoah ist in der Stadt ohnehin allgegenwärtig.“
Für die Geschichte davor und danach, d. h. die ältere Vergangenheit und die Gegenwart der jüdischen Gemeinde finden sich im Laufe des Rundgangs jede Menge Anhaltspunkte und Themen. Theodor Herzl und der Zionismus werden am Fuß der Herzl-Stiege bei der dort angebrachten Tafel ausführlich erörtert. „Im Fürstenhof im zweiten Bezirk, der nicht mehr steht, war die erste Wohnung der Familie Herzl in Wien, aber dort gibt’s keine Tafel.“

Vom Heimweh. Am Desider-Friedmann-Platz, der an den ersten zionistischen Präsidenten der Kultusgemeinde erinnert, erzählt Juraschek auch von seiner Begegnung mit dessen Nachfahren. „Desider Friedmann hatte zwei Töchter, die nach Palästina flüchten konnten. Eine der Töchter hatte einen Sohn, der mir anlässlich einer Führung erzählte, dass seine Mutter lebenslang unter Heimweh gelitten hatte. Er selbst, also der Enkel, kommt häufiger nach Wien und hat immer noch das Gefühl, ein bisschen daher zu gehören.“
Nachkommen ehemaliger Wiener Juden, die sich besonders für deren Wurzeln und für das jüdische Wien interessieren, erzählen immer wieder vom Heimweh ihrer Eltern oder Großeltern. „Ich hatte eine Gruppe vom Tempel Beith Israel aus New Jersey, die eine Dreitagestour gebucht hatte. Eine Frau, deren Vater, Hans Rosenzweig, aus dem 20. Bezirk stammte, brachte mir verschiedene Familiendokumente mit. Darunter einen berührenden Bericht über die „Kristallnacht“. Da beginnt man zu weinen. Vielleicht liegt’s auch an mir, denn je älter ich werde, desto weniger kann ich mich distanzieren.“
Von persönlichen Schicksalen künden in lapidarster Form die „Steine der Erinnerung“, über die man beim Gehen in der Innenstadt ja ohnehin buchstäblich stolpert. „Sie sind wichtig, weil sie den Opfern einen Namen geben.“
Wie jeder Guide kann auch Walter Juraschek mit einigen Kuriosa aufwarten. „Wussten Sie, dass der Goldene Saal im Musikverein bis 1938 einmal im Jahr, zu Jom Kippur, von der Kultusgemeinde für die ‚Eintagesjuden‘ gemietet wurde? Also Fasten im Goldenen Saal!“
Und er rückt, vor der Synagoge in der Seitenstettengasse angekommen, historische Fakten zurecht: „Viele Menschen glauben ja, dass diese Synagoge in der Pogromnacht nicht angezündet wurde, um die Nachbarhäuser zu schützen. Blödsinn! Auch der Türkische und Polnische Tempel im Zweiten lagen ja im dicht verbauten Gebiet. Dieser Tempel hier wurde verschont, weil man sonst das im Gebäude befindliche Archiv der Kultusgemeinde samt Matrikel verloren hätte, und wen hätte man ohne Unterlagen verfolgen sollen? Drinnen hat man trotzdem alles zerschlagen.“
Zeitlich koordiniert mit den täglichen Tempelführungen endet oder beginnt die zweistündige Tour durch das jüdische Wien in der Seitenstettengasse, damit eventuell Interessierte auch noch das Innere der Synagoge besichtigen können.
Vertiefende dreitägige Touren führen von der Innenstadt und die „Mazzesinsel“ über die Ringstraße und gehen näher auf die jüdische Kultur- und Stadtgeschichte ein. Für spezielle Aspekte wie etwa „Freuds Wien“ steht eine Expertin zur Verfügung, und auch besondere Führungen durch den Jüdischen Friedhof sind nach Voranmeldung buchbar.
Im Winter ist die Nachfrage etwas geringer, die Touren daher seltener, aber Walter Juraschek steht für Anfragen und Terminvereinbarungen jederzeit zur Verfügung.
Karten und weitere Auskünfte sind am Info Point in Dorly Singers Book Shop erhältlich.

INFO: walter.juraschek@chello.at
Mobil:+43 699 19251524

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