Manche Spiele vergisst man nie

Abraham Klein leitete als Schiedsrichter einige große Spiele, u. a. DAS Spiel Österreich gegen Deutschland 1978 in Cordóba. Der Schoah-Überlebender lebt heute in Haifa und schwelgt gerne in Erinnerungen an legendäre Fußballereignisse.

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© Itamar Treves-Tchelet

Juni 1978. Abraham Klein steht in der Unterführung des Estadio Monumental in Buenos Aires vor dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit im WM-Duell zwischen Argentinien und Italien. Vor der Pause verweigerte er den Gastgebern einen 11-Meter-Schuss. Nun wartet er, bis das heimische Team das Spielfeld betritt, damit er der Wut der 70.000 Fans entgehen kann. Vor dem Spiel hatten ihn seine Freunde aus der jüdischen Gemeinde noch gebeten, auf das Spiel zu verzichten – sie hätten es ohnehin unter dem Militärregime nicht einfach und fürchteten antisemitische Racheaktionen. Am Ende, trotz der schockierenden 1:0-Niederlage des Gastgebers, verlässt er das Stadion furchtlos und ohne polizeiliche Begleitung. Sein Bauchgefühl sagt ihm, er habe gut gepfiffen. So dachte auch die Fifa-Schiedsrichterkommission. Einen Tag später wird er über seinen nächsten Einsatz informiert: Austria vs. West Germany am 21. Juni in Cordoba.

Klein ist zuerst enttäuscht. „Mir war es besonders wichtig, die großen Spiele zu leiten“, erinnert er sich, „Spiele, die auch Jahre später nicht vergessen werden“. Cordoba versprach hingegen nur wenig: Der amtierende Weltmeister Deutschland hatte nur eine blasse Hoffnung, ins Finale zu ziehen; die Österreicher kauften schon Flugtickets nach Hause. Der Niveauunterschied zwischen den beiden Teams war deutlich. „Ich habe ein leichtes Spiel erwartet, mit Endstand 6 oder 7 zu 0 für Deutschland“, erzählt Klein, „ich dachte, dass ich dem Geschehen entspannt von der Seite zuschauen würde.“

Doch am Ende bewies sich das Spiel als Jackpot: Niemand rechnete mit dem sensationellen 3:2 für Rot-weiß-Rot. Und außer drei gelben Karten verlief das Spiel ohne Schwierigkeiten, er musste mit den Spielern nicht einmal diskutieren. „Die Österreicher haben einen außergewöhnlichen Tag erwischt. Die Deutschen sagten danach nichts, sie waren völlig schockiert.“ Es war ihm klar, dass hier Fußballgeschichte geschrieben wurde. Die Tatsache, dass er, ein Israeli und Schoah-Überlebender, bei zwei Täternationen pfeifen musste, spielte hingegen für ihn keine Rolle. „Die Fifa hätte 29 andere Schiris aussuchen können, trotzdem haben sie mich genommen. Sie wussten, dass ich meine persönlichen Gefühle aus dem Spiel lasse.“ Das satirische Video aus Willkommen Österreich, in dem ihn Stermann und Grissemann als zwei Nazi-TV-Kommentatoren als „einen gewissen Herrn Abraham Klein aus Israel – jeder weitere Kommentar überflüssig“ bezeichnen, findet er übrigens lustig.

„Zum Glück haben sie es nicht mehr geschafft, uns nach Auschwitz zu deportieren.“

Ein Rätsel aus dem Cordoba-Wunder bleibt dennoch offen: der Ball. Jahrzehntelang bewahrte Klein die Bälle aus seinen WM-Turnieren auf. In seiner alten Wohnung in Haifa steckten sie, luftdicht eingepackt in Supermarktsackerl aus Nylon, in tiefen Schubladen. Ein wahrer Schatz für Fußballfans. Darunter war auch ein Ball von der WM 1978. „Da habe ich drei Spiele geleitet. Zu welchem Spiel dieser Ball genau gehört, das weiß ich nicht mehr.“ Eigentlich wollte er seine rare Sammlung via Ebay verkaufen, Interessenten fanden sich rasch. Keine 24 Stunden später riefen schon Fifa-Leute an, die seine Artefakte für das neue Weltfußballmuseum in Zürich haben wollten, inklusive dem „möglichen Cordoball“. „Es gibt keinen anderen Ball dieser Art“, meint Klein, „aber die Gewissheit, dass meine Sachen lebenslang in der Dauerausstellung bleiben, ist mir viel mehr wert als Geld.“

2010 veröffentlichte Abraham Klein seine Autobiografie. Er beginnt seine Geschichte – als Kontrast zu seinem Erfolg als Schiri – ausgerechnet mit dem Satz „Ich war ein schrecklicher Fußballspieler“. Ein Kapitel lässt er aber aus: jenes über sein persönliches Leben.

Abraham Klein überlebte die Schoah, wurde zum international anerkannten Schiedsrichter und pfiff u. a. das legendäre „Wunder von Cordóba“

Verlorene Kindheit. Der heute 84-Jährige wurde in Timișoara, Rumänien, geboren. Sein Vater war Fußballer bei MTK Budapest und wanderte bereits 1937 nach Palästina aus. Klein sollte ihn erst elf Jahre später wiedersehen. Als Einzelkind lebte er bei seiner Mutter und sah zu, wie seine Stadt immer judenfeindlicher wurde. Während des Krieges besuchte er die jüdische Schule. Der Alltag wurde von wiederkehrenden Belästigungen durch deutsche Soldaten bestimmt. „Einmal sind sie bewaffnet bei uns zuhause eingebrochen“, beginnt er zu erzählen, doch „zum Glück haben sie es nicht mehr geschafft, uns nach Auschwitz zu deportieren.“

Klein erinnert sich noch, wie sie gejubelt haben, als die Sowjets kamen. Fußball war wieder erlaubt. Als 13-Jähriger kam er mit 500 Kindern durch die Hilfsorganisation Joint nach Holland, um sich ein Jahr lang vom Krieg zu erholen und danach Alija zu machen. „Am Weg hin haben wir die Ruinen von Berlin gesehen. Den Anblick haben wir genossen.“

Jahrelang wollte er nicht nach Timișoara zurück, auch als er Fifa-Aufträge in Rumänien bekam. „Ich habe keine guten Erinnerungen von dort“, sagt er trocken. Vor drei Jahren hat ihn eine Filmproduktion doch überredet hinzufahren. „In mein Haus konnten wir nicht hinein“, berichtet er, „ein Nachbar warnte uns, bloß nicht näher zu kommen, denn viele Rumänen fürchten sich noch heute vor Restitutionsklagen durch Juden.“

Zum Pfeifen ist Klein durch Zufall gekommen, als er für seinen Schneider in der Halbzeit eines Amateurspiels einspringen musste. Er war Feuer und Flamme. Dank harter physischer Arbeit, Schlagfertigkeit, Selbstdisziplin und was er „emotionale Intelligenz“ nennt, war der Weg zur ersten Fußballliga in Israel kurz. 1969 leitete er das Spiel zwischen Bayern Hof und Hapoel Nahariya – das erste Duell zwischen einer deutschen und einer israelischen Mannschaft. Die Spitze wurde erreicht, als er zur WM 1970 in Mexiko eingeladen wurde. „Als ich den Umschlag mit dem Einsatzplan öffnete, zitterten meine Hände.“ Darin stand: Game 15 – England vs. Brazil. Amtierender Weltmeister gegen den Favoriten – der Traum jedes Schiris. Viele waren über die Entscheidung, den noch unerfahrenen Klein bei diesem Spiel einzusetzen, überrascht. Eine britische Zeitung schrieb, diese Wahl wäre „wie einen Pfadfinder nach Vietnam zu schicken“. Klein lacht heute: „Sie haben sich danach entschuldigt.“

1994 beendete Klein seine lange, erfolgreiche Karriere als einer der besten Schiedsrichter der Welt. Im Vergleich zu gleichrangigen Schiris von heute hat er kein Geld verdient. Und obwohl er selbst immer unparteiisch bleiben musste, prägte die Politik seine Karriere ständig. Für die WM 1974 in Deutschland, zwei Jahre nach dem Anschlag gegen die israelischen Athleten im olympischen Dorf in München, wurde er ausgeladen – keiner wollte für seine Sicherheit haften. Bei der WM 1982 in Spanien drohten die arabischen Nationen, das Turnier zu boykottieren, wenn Klein dort pfeift. Und 1978 haben ihm die Argentinier ihre einzige Niederlage im Turnier nicht verziehen. Sie warben heftig gegen seine Kandidatur als Schiri im Finale gegen Holland – damit war sein größter Traum zerplatzt.

Heute lebt Abraham Klein in einem Hochhaus, direkt am Strand von Haifa. Täglich schwimmt er im Meer. „Ich wiege genau so viel wie in Mexiko 1970″, sagt er, und „hätte ich meine Knie nicht operiert, würde ich heute noch pfeifen.“ Auf seinen vielen Reisen mit seiner Frau Bracha genießt er es, über seine Karriere zu erzählen. „Letztens sind wir in Italien Zug gefahren. Ein Kind hat mir seinen Sitzplatz überlassen. Ich habe ihm eine Visitenkarte von mir geschenkt. Da bin ich im Spiel Italien–Brasilien von 1982 abgebildet. Die Italiener siegten 3:2 und wurden danach Weltmeister. Der Junge musste mich zuerst mal googeln, doch kurz darauf versammelte sich der ganze Zug bei mir. Es gibt Spiele, die man nicht vergisst. Von Cordoba habe ich übrigens auch so eine Visitenkarte drucken lassen.“ 

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