Die bedeutende ungarische Philosophin Ágnes Heller über ihr Leben, den jüdischen Glauben, auserwählte Menschen und die gegenwärtige politische Situation in Ungarn. Interview: Peter Bognar Fotos: Daniel Kaldori
wina: Beginnen wir vielleicht bei den Anfängen. Wie haben Sie Ihre Kindheit verbracht?
Ágnes Heller: Ich bin als Einzelkind in einer jüdischen Familie aus der kleinbürgerlichen Intelligenz aufgewachsen. Meine Eltern hatten einander sehr gern. In dieser Hinsicht hatte ich also eine sehr angenehme Kindheit. Allerdings wurde mein Leben schon in Kindheitstagen von der Politik überschattet. Mein Vater war politisch nämlich sehr aktiv. So wusste ich schon mit vier Jahren, dass Hitler in Deutschland die Macht erlangt hat. Mein Vater holte mich nur ein einziges Mal von der Schule ab. Das geschah beim „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, ich besuchte damals die dritte Klasse der Grundschule. Er erklärte mir damals, dass die Deutschen Österreich besetzt hätten. Ich habe also schon von klein auf über die Geschehnisse in der Welt Bescheid gewusst. Noch dazu hatten wir ständig Flüchtlinge bei uns. Vor dem Krieg war es für Juden noch möglich, aus den diversen Internierungslagern zu gelangen. Ich kann mich noch gut an einen Mann erinnern, der aus Dachau zu uns kam. Mein Vater unternahm große Anstrengungen, den internierten Juden zu helfen. Er reiste auch immer wieder nach Deutschland, um die dortigen Internierungslager selbst zu besuchen. Um internierte Juden zu befreien, versuchte er, ihnen entweder gefälschte Reisepässe oder die ungarische Staatsbürgerschaft mittels Scheinehen zu beschaffen. Da mein Vater nicht das Aussehen eines Juden hatte, fiel er den Deutschen nicht auf.
wina: Wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt?
ÁH: Mein Vater wurde nach Auschwitz deportiert. Meine Mutter und ich schlugen uns irgendwie im Budapester Ghetto durch. 1944 und 1945 konnte ich dem Tod dreimal nur um ein Haar entrinnen. Man musste seinerzeit ständig auf der Hut sein, man wusste nämlich nie, was auf einen zukommt, die permanente Wachsamkeit bewirkte aber, dass man sich immerzu in einem erschöpften, dumpfen Zustand befand.