Die Wiederentdeckung der Mehrheitsgesellschaft

Der israelische Mainstream hat sich bei der Wahl bemerkbar gemacht. Die Frage ist bloss, ob sich das auch in reale Politik umsetzen lässt.

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Präsident Reuven Rivlin auf der Suche nach einer stabilen Regierung: mit oder ohne Benjamin Netanjahu. © flash90/Yonatan Sindel

Das neue Jahr hat begonnen, wie das alte geendet hat: im politischen Limbo. Aber ein paar Dinge stehen seit dem 17. September dennoch fest. Benjamin Netanjahu kann keine Wahlen mehr gewinnen und eine Koalition nach seinem Geschmack bilden. Das heißt nicht, dass sein Herausforderer Benny Gantz ihn so einfach ablösen kann. Die Zahlen geben es nicht her. Eine Koalition der nationalen Einheit wäre die stabilste Lösung, aber dorthin muss man es erst einmal schaffen. Es stellt sich die Frage, wie breit sie angelegt sein soll und kann, und vor allem, wer sie wann anführt.
Dabei herrscht – jedenfalls bei den Wählern – ein weitgehender Konsens, dass eine erneute Wahl, es wäre die dritte innerhalb eines Jahres, um jeden Preis vermieden werden müsse. Italien ist ein tolles Reiseland, aber bitte keine italienischen Verhältnisse. Die geopolitische Lage erlaubt das nicht. Der Staatshaushalt auch nicht.
Anders als befürchtet, hat sich seit der letzten Wahlrunde im April keine Lethargie breit gemacht. Bei dieser zweiten Runde sind sogar mehr Israelis zur Wahl gegangen. Das Ergebnis zeigt, dass die Menschen nicht damit einverstanden sind, dass Netanjahu die Hälfte der Bevölkerung delegitimiert, sagt Politikwissenschaftler Shlomo Avineri. „Den Menschen ist klar, dass es in einigen Grundfragen tiefe Gräben im Land gibt, aber es herrscht ein Gefühl, dass man diese Art von Diskurs überwinden muss.“ Dieser Stimmungswechsel mag durchaus paradox anmuten, hat doch gerade einer der schmutzigsten und polarisierendsten Wahlkämpfe in der Geschichte des Landes stattgefunden. Für Netanjahu gab es da nur zwei Alternativen: eine „starke Rechte“ unter seiner Führung oder eine „gefährliche schwache Linke“.

»Den Menschen ist klar, dass es in einigen Grundfragen tiefe Gräben im Land gibt, aber es herrscht ein Gefühl, dass man diese Art von Diskurs überwinden muss.«
Shlomo Avineri

Noch ist es zu früh, um Netanjahu abzuschreiben. Es ist durchaus möglich, dass er noch eine Weile im Amt bleibt. Auch hält man ihm im Likud hält vorerst noch weiterhin die Stange. Dennoch zeichnet sich eine Wende ab. Und nicht nur, weil Netanjahu bald eine Anklage drohen könnte. Schon zu lange fühlte sich der Durchschnittsbürger von seinen Regierungskoalitionen aus rechten, nationalreligiösen und ultraorthodoxen Parteien nicht mehr vertreten. Nun meldete sich der in die Ecke gedrängte Mainstream wieder zu Wort.
Die Ergebnisse spiegeln das wider. So schaffte die rechtsradikale Otzma Jehudit nicht den Sprung ins Parlament. Die Siedlerpartei Yemina blieb weit hinter ihren Erwartungen zurück. Finanzminister Mosche Kachlon, der sich mit seiner Zentrumspartei Netanjahus Likud angeschlossen hatte, brachte diesem keine zusätzlichen Stimmen. In vielen klassischen Likud-Hochburgen wie Ashdod, Sderot und Netanja konnte die Regierungspartei nicht mehr an ihre alten Erfolge anknüpfen. Auch tendierten die jungen Rekruten diesmal nicht, wie üblich, mehrheitlich nach rechts. Wähler haben sich umorientiert, manche sind zu Avigdor Liebermans Jisra’el-Beitenu-Partei übergewechselt, die für eine „säkulare, liberale Regierung der nationalen Einheit“ aus Likud und Blau-Weiß plädiert. Im Notfall sogar ohne ihn. Nach einer jüngsten Umfrage von Hidusch, die sich für religiösen Pluralismus einsetzt, wünschen sich 57 Prozent der jüdischen Wähler eine Regierung ohne den Einfluss von ultraorthodoxen Parteien.
Vielleicht verfrühte Aussichten auf eine solche Einheitsregierung hatten zunächst sogar die Tel Aviver Börse nach oben getrieben. Der Optimismus stützte sich auf das Argument, dass eine solche Koalition sich nicht mehr so leicht unter Druck setzen ließe von kleinen Interessenparteien, die den Staatshaushalt leeren. Wenige und gewichtige Partner würden zudem eine langfristigere Planung zum Nutzen der Wirtschaft erlauben.
Netanjahu selbst hat schnell erkannt, dass der Wind sich gedreht hat, und seine Taktik angepasst. Nun will plötzlich auch er, was er bisher kategorisch ausgeschlossen hat: Gespräche über die Bildung einer Einheitsregierung mit Benny Gantz. Durch eine Rotation könnte er so weiter Regierungschef bleiben. Für ihn wäre das die einzige Möglichkeit, im Falle einer Anklage nach seiner Anhörung Anfang Oktober im Amt zu bleiben. Als bloßer Minister müsste er schon bei einer Anklageerhebung zurücktreten. Bei den ersten Verhandlungen unter seiner Ägide versuchte Netanjahu aber dann doch zunächst, den gesamten Rechtsblock mit in eine „breite Einheitsregierung“ zu integrieren. Gantz lehnte mit dem Argument ab, dass man sich zunächst über gemeinsame Inhalte verständigen sollte.

Netanjahus Aufrichtigkeit darf dabei bezweifelt werden. Skeptiker unterstellen ihm, dass er am Ende einen dritten Wahlgang erreichen will. Für ihn, schreibt die konservative Jerusalem Post, sei das jüngste Wahlresultat bloß ein Ausrutscher gewesen, den es zu korrigieren gelte. Wie es weitergeht, ist damit offen.
In der ersten Oktoberwoche wird nun erst einmal die 22. Knesset eingeschworen. Zur selben Zeit findet Netanjahus Anhörung statt. Zehn Rechtsanwälte werden sich dort für ihn stark machen. Dann muss Generalstaatsanwalt Mandelblitt entscheiden, ob es zu einer offiziellen Anklage kommt. Während dieser Zeit wird Präsident Rivlin weiter nach einer Strategie suchen, um zu einer Regierungsfindung beizutragen. Mit oder ohne Netanjahu.

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