Erlesene Hauptmahlzeit

1711

– Fundstücke aus dem journalistischen Schaffen von Joseph Roth –

„Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern eine Hauptmahlzeit“, schreibt Joseph Roth 1926 in einem Brief. Und meint damit seine eigene Bedeutung als Journalist und Feuilletonist, über seine Person hinaus aber überhaupt den Stellenwert des Feuilletonisten im Rahmen einer Zeitung.

Nun ist es ja nicht so, dass Joseph Roth zu den Vergessenen gehört, an die man an dieser Stelle erinnern müsste. Auch der 120. Geburtstag und 75. Todestag des in Galizien geborenen jüdischen Schriftstellers sind in diesem Jahr nicht ganz unbeachtet geblieben. Von einer größeren Leserschaft werden vor allem seine Romane und Erzählungen geschätzt, doch auch sein umfangreiches journalistisches Werk ist längst gut lesbar ediert und Roth-Freunden keineswegs unbekannt. Dennoch gibt es manchmal überraschende Fundstücke, verblüffende literarische Petitessen, die in bisherigen Ausgaben offenbar übersehen wurden.

Einige davon fördert jetzt die Internationale Joseph-Roth-Gesellschaft in ihrer Schriftenreihe zutage, die leider nur über diese „Gesellschaft“ erhältlich ist. Unter dem Titel Städtebilder 1894–1939 finden sich da Texte Roths für die Wochenzeitschrift Das Illustrierte Blatt samt den Illustrationen von Shalom Siegfried Sebba (1897–1975). Allein diese Grafiken des in Ostpreußen geborenen jüdischen Künstlers sind eine Entdeckung! Seine Berliner Großstadtveduten aus den 20er-Jahren, die Roths literarische Reportagen kongenial ergänzen, erinnern sogar in den schlechten Reproduktionen zuweilen an George Grosz. Beklagt Roth in seinem Feuilleton etwa die „verwelkte Aktualität“ alter, klappriger Droschkengäule angesichts der neuen Automobile, so sieht der Leser des Illustrierten Blatts diese Straßenszene gleich daneben mit den Augen von Sebba, der erst nach seiner Auswanderung nach Palästina vom Siegfried zum Shalom mutierte und dort unter anderem als Bühnenbildner für die Habimah tätig war, bevor er aus gesundheitlichen Gründen wieder nach Deutschland zurückkehrte.

Eine echte Trouvaille ist dem hingebungsvollen Roth-Forscher Heinz Lunzer, der sich gemeinsam mit seiner Frau Victoria seit Jahren um das Werk des Schriftstellers verdient macht, aber mit der Wiederentdeckung der wunderbaren kurzen Erzählung Die Dame am Büfett gelungen, die keiner Illustration bedarf, weil Roth besagte Dame selbst mit zärtlichsten Strichen zeichnet: „In ihrem Angesicht ist die Jugend erloschen, aber kein Alter erwacht. […] Die Nase ist scharf, sanft und edel gebogen und heute schon streng. Dennoch weiß man, wie zart ihre Flügel waren, als sich die Lippen noch rot und ein Stück weißer Zähne entblößend wölbten und die Oberlippe der Nase entgegenkam, statt sich, wie heute, von ihr abzuwenden.“

Wer kann denn jetzt noch so schreiben, geschweige denn für ein Illustriertes Blatt!

wina info
Näheres über die 2008 gegründete Internationale Joseph-Roth-Gesellschaft, die über aktuelle Publikationen und Veranstaltungen informiert, sind auf der Website des Vereins zu finden:
literaturhaus.at unter „Partner“

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