Kontinuität mit Zäsuren

Wo die Schüler der Talmud-Thora-Schule Machsike Hadass in der Wiener Malzgasse heute turnen, stand einst eine Synagoge, zerstört im November 1938. Kürzlich fand man unter dem Turnsaal Überreste des zerstörten Gebetshauses – eine Geschichte von Beständigkeit und Brüchen an einem Ort, der seit dem 19. Jahrhundert bis heute durchgängig jüdische Institutionen beherbergt.

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Starke Stützen. Arieh Bauer, Generalsekretär des Schulvereins, in den Überresten des ehemaligen Gebetshauses. ©Daniel Shaked

Zweihundert frierende Schüler sind für eine Schulleitung eine wenig prickelnde Aussicht. Als vor einigen Jahren ein Heizungsproblem auftrat, beauftragten die Verantwortlichen der jüdischen Schule in der Malzgasse daher einen Installateur. Neue Heizungsrohre mussten verlegt werden. Beim Stemmen meinte der Fachmann, irgendetwas sei da hinter der Wand, erzählt Arieh Bauer, Generalsekretär des Schulvereins. Der Schulerhalter entschied sich schließlich im Herbst 2017, der Sache gemeinsam mit einem Baumeister auf den Grund zu gehen. Dann ging es Schlag auf Schlag.
Pläne aus dem Jahr 1939 wiesen auf einen zugeschütteten Keller hin. Wie sich herausstellte, ein Euphemismus, der es in sich hat. Denn die Nationalsozialisten setzten zunächst die Synagoge in Brand und ordneten dann an, den entstandenen Schutt in den Keller zu schaffen. Der Schulverein unter der Leitung von Ari Steiner wollte es nun genauer wissen. Der Keller wurde Stück für Stück freigelegt und spuckte dabei Schicht für Schicht die Geschichte des Ortes aus. Bauers Großmutter hatte die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Wien miterlebt. „Ich habe zur ihr gesagt, Oma, ich habe die Kristallnacht aufgeräumt.“

Birgit Johler, Ethnologin und Kuratorin der Ausstellung Verschüttet. ©Daniel Shaked

Händisch vorsortiert. In der heutigen Malzgasse stand bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Brauhaus. Als die Gründe dieses Betriebes bebaut wurden, entstand in den 1860er-Jahren an der Adresse Malzgasse 16 ein Schulgebäude für die 1854 gegründete Talmud-Thora-Schule. 1884 wurde zudem eine Synagoge errichtet. Die Schule brauchte jedoch mehr Platz, und so wurde das Schulhaus zunächst 1876/77 neu adaptiert. 1892 stockte man den Synagogenbau um eine Etage auf. Anfang des 20. Jahrhunderts entschieden sich die damaligen Verantwortlichen schließlich für einen gänzlichen Neubau, der 1906 erfolgte. Dabei tauschten Schule und Synagoge ihre Grundflächen. Für den Entwurf verantwortlich zeichnete der Architekt Theodor Schreier (1873–1943, ermordet in Theresienstadt).
Ab 1911 befand sich im oberen Teil des Gebäudekomplexes zudem das 1895 von der Israelitischen Kultusgemeinde gegründete Jüdische Museum, in der Zwischenkriegszeit ein „Ort kultureller Selbstvergewisserung“, wie die Ethnologin Birgit Johler sagt. Sie kuratiert unter dem Titel Verschüttet die Ausstellung, die ab 8. November 2019 im Haus der Geschichte Österreich über den Fund in der Malzgasse zu sehen sein wird. Die Expertin betont, dass diese Schau nicht als fertiges Ergebnis, sondern als Teil des Forschungsprozesses zu sehen ist, der nun in Gang kommt. Eine zentrale Rolle kommt dabei Arieh Bauer zu.

»Schicksale wie das von Gisela Figdor
machen die Malzgasse 16 zu einem
historischen Ort von österreichweiter Relevanz.«

Birgit Johler 

Die Schule informierte, nachdem klar war, dass man hier auf geschichtlich Relevantes gestoßen ist, das Bundesdenkmalamt. In der Folge wurde der archäologische Dienst in die Malzgasse geschickt – doch die Ressourcen der öffentlichen Hand erwiesen sich zu dem Zeitpunkt als zu beschränkt. Bauer nahm gemeinsam mit Ari Steiner die Dinge in die Hand. Er hielt jeden Schritt teils fotografisch, teils filmisch fest. „Ich habe dokumentiert, was war. Ich hatte immer das Gefühl, dass das ein historisch wertvolles Projekt ist.“
Bauer sorgte aber auch dafür, als der Schutt professionell abgesaugt wurde, dass zunächst ein Handwerker händisch vorsortierte, was in den Müllschlauch durfte und was zur Seite gelegt wurde. Und so reihte sich Fundstück an Fundstück und erzählte die Geschichte des Ortes. Vieles ließ sich einem Bereich des Gebäudes zuordnen, einige Gegenstände harren noch der genaueren Erforschung. Da kamen Objekte des früheren jüdischen Museums zum Vorschein, verkohlte Gebetsbücher aus dem Gebetshaus und zerbrochene Gedenktafeln, die in der Synagoge gehangen hatten, Alltagsgegenstände wie Teller oder Flaschen, die vermutlich aus der Zeit bis 1938 datieren. 1939 veranlassten die Nationalsozialisten die Lagerung des Schutts durch Zuschüttung des Kellers.

©Daniel Shaked

In der NS-Zeit wurde das Gebäude dann zunächst als Siechenheim der IKG, dann als Sammellager, schließlich bis 1945 – nach der Schließung des Rothschild-Spitals – als einziges jüdisches Krankenhaus in Wien genutzt. In den 1950er-Jahren erfolgte die Rückstellung an den Schulverein, 1956 eröffnete erneut eine orthodoxe Schule.
Einer der Schüler der 1960er-Jahre war Ari Steiner. Die Verantwortlichen damals seien jüdische Flüchtlinge aus Ungarn und Rumänien gewesen, erzählt er. Wissen über die Nutzung des Gebäudekomplexes vor 1938 gab es da nicht. Es galt, aus der „Bruchbude“, die das Haus nach dem Krieg gewesen sei, nach und nach eine Schule zu entwickeln. Darauf lag der Fokus der Schulleitung.
Tatsächlich wurde all die Jahre dort unterrichtet, wo bis 1938 eine Synagoge stand. Und teilweise noch steht. Denn beim Abtransport des Schuttes – insgesamt waren es 50 Wägen mit je zwölf Tonnen Müll – wurde nicht nur der zugeschüttete Keller freigelegt. Es stellte sich auch heraus, dass zwischen dem heutigen Turnsaal der Schule und dem früheren Synagogenboden ein 1,05 Meter hoher ebenfalls zugeschütteter Raum besteht. De facto existieren damit 1,05 Meter der früheren Synagoge – inklusive der Brandspuren aus der Pogromnacht. Ob und wie diese konserviert werden können, muss erst von Experten geklärt werden.
Steiner wünscht sich nun vor allem eines: dass die Synagoge auf dem bestehenden Grundriss und dem Teil des Baus, der noch da ist und seit der NS-Zeit verschüttet war, wieder ersteht. Dass dies ein großes, ein kostenintensives Projekt ist, ist ihm bewusst. Er hofft, dass sich die öffentliche Hand der Geschichtsträchtigkeit des Ortes mit durchgehend jüdischer Nutzung, was in Wien – abseits des Stadttempels in der Seitenstettengasse – ziemlich einzigartig sei, bewusst werde.
Wie die Schule und die Synagoge in der Malzgasse früher ausgesehen haben, kann man sich in einem einzigartigen Film ansehen. 1923 drehte Hanns Marschall im Auftrag des Jüdischen Hilfswerks, einer orthodoxen Einrichtung, einen Film mit dem Titel Opfer des Hasses. Der rund eine dreiviertel Stunde lange Stummfilm (auf Youtube abrufbar) wechselt zwischen nachgestellten Szenen, welche die Flucht eines ukrainischen Fabrikanten und seiner zwei Enkelkinder nach Österreich erzählen, und Aufnahmen aus Einrichtungen des Hilfswerks, das jüdischen Geflüchteten mit Schulen, Waisenhäusern, Gesundheitsversorgung, Ausspeisungen unter die Arme griff. Aufgerufen wird am Ende zu Spenden für die Hilfsorganisation. Zwischen Minute 36 und Minute 40 sind auch Aufnahmen aus der Talmud-Thora-Bürgerschule und aus der Synagoge in der Malzgasse zu sehen.
Sieht man in diesem Film die Teller, die damals bei Ausspeisungen verwendet wurden, und hat dann im Büro von Arieh Bauer einen solchen Teller selbst in der Hand, wird Geschichte wörtlich fassbar. Und wenn Bauer sich auch über die religiöse Kontinuität an diesem Ort – damals wie heute ist hier der Spirit der Orthodoxie aktiv und spürbar – freut, kommt dafür prompt die lautmalerische Bestätigung, wenn man aus einem anderem Raum der Schule den Gesang von Kindern hört.

Puzzle zusammengesetzt. Bauer hat gemeinsam mit dem Schulwart auch die gefundenen Fragmente der zerbrochenen Gedenktafeln aus der Synagoge zusammengesetzt. Er spürte Namen auf, fand sie in den Matrikenbüchern der IKG, fand auch dazugehörige Gräber am Zentralfriedhof. Auf einem der Grabsteine für eine Verstorbene, die wohl einst in der Synagoge in der Malzgasse gebetet hatte, fand er eine Beschreibung, wie penibel diese Schabbes gehalten habe. „Damit können wir uns auch heute noch als Schulverein identifizieren.“ Steiner sieht die momentane Arbeit als Puzzle, das es zusammenzusetzen gelte. Man sei auch mit Nachkommen der auf den Gedenktafeln Verewigten in Kontakt getreten. Einer von ihnen lebe heute in Hongkong.
Johler faszinieren die vielen nationalen und internationalen Bezüge, die auftauchen, sobald man sich mit dem Ort beschäftige. Da sei etwa auch die traurige Geschichte der Gisela Figdor, die 1882 in Wien geboren wurde und deren Mutter Familie in Hohenems hatte. Die Eltern ließen sich scheiden, die Mutter ging mit Gisela eines Tages nach Vorarlberg. Dort scheint es den beiden Frauen nicht besonders gut gegangen zu sein, 1924 waren sie im dortigen jüdischen Armenhaus registriert. Als die Mutter 1931 starb, war die Tochter bereits krank und seelisch angegriffen und auf die Fürsorge angewiesen. 1940 wurde sie gegen ihren Willen nach Wien zwangsumgesiedelt. Sie starb am 18. Jänner 1942 im jüdischen Krankenhaus in der Malzgasse und ist auf dem Zentralfriedhof begraben. „Schicksale wie das von Gisela Figdor machen die Malzgasse 16 zu einem historischen Ort von österreichweiter Relevanz“, erklärt die Kuratorin. „Ich verstehe die Ausstellung wie ein Scharnier zwischen Vergangenheit und Zukunft.“
Hier kann erzählt werden, was einmal war, was jetzt ist – aber eben auch, was wieder sein könnte. Aufzeigen will Johler die Schichtungen des Ortes. Faszinierend findet sie aber auch die eigene Beschäftigung mit der eigenen Geschichte, auf die sich der Schulverein hier eingelassen haben. Die hunderten Fundstücke, die in den vielen Tonnen Schutt gefunden wurden, lagern übrigens in einem persönlichen Lagerraum von Ari Steiner. Er kam auch finanziell für die bisherigen Arbeiten auf, vom Absaugen des Kellers bis zur statischen Verstärkung des Turnsaals.
Als man den Raum zwischen dem Turnsaal und dem Synagogenboden öffnete, habe es „nach der ‚Kristallnacht‘ gerochen“, schildert Bauer. Gerüche kann man nicht konservieren, aber dieses Gefühl nimmt man mit, wenn man sich die aktuelle Baustelle in der Malzgasse angesehen hat. Vielleicht steht da in einigen Jahren tatsächlich eine Synagoge auf den Überresten von 1938. Vielleicht sieht man dann die Brandspuren hinter Plexiglas, und die zusammengesetzten Gedenktafeln hängen wieder an der Wand der Synagoge. Vielleicht.
hdgoe.at

Zeitungsbericht über die Ankunft von Arnold und Alma Rosé in London im Mai 1939. © The Gustav Mahler–Alfred Rosé Collection. Music Library, University of Western Ontario, Canada. Supported by The Gladys Krieble Delmas Foundation

Die NS-Zeit im Haus der Geschichte Österreich
Der Balkon der Neuen Burg, von dem aus Adolf Hitler seine „Anschlussrede“ vor den jubelnden Menschen am Heldenplatz hielt, befindet sich genau in jenem Abschnitt des imperialen Gebäudes, in dem seit wenigen Monaten das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) untergebracht ist. „Es ist uns ein Anliegen, diesem kontaminierten Ort, der in das österreichische Gedächtnis nachhaltig eingebrannt ist, durch Ausstellungen und Vermittlungsangebote die Position des heutigen Österreichs entgegenzusetzen“, betont die Direktorin des neuen Museums, Monika Sommer. Die Innenfläche, von welcher der berühmte Balkon aus betreten werden kann, heißt nun „Alma-Rosé-Plateau“. Rosé rettete als Leiterin des Frauenorchesters im KZ Auschwitz-Birkenau vielen jüdischen Musikerinnen das Leben, wurde aber selbst ermordet.
Auf dem „Alma-Rosé-Plateau“ zeigt das Haus der Geschichte dieses Jahr vier Ausstellungen, in welchen die NS-Zeit verhandelt wird. Nur die Geigen sind geblieben erinnert an Alma Rosé und ihren Vater Arnold. Die Installation Stricken beleuchtet in Kooperation mit den Wiener Festwochen Befindlichkeiten afrodeutscher Frauen, deren deutsche Großmütter in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt haben. In der darauf folgenden Schau wird an den Vernichtungsort Mali Trostinec erinnert (gewählt wurde die nicht so übliche Schreibweise Malyj Trostenez). Und schließlich wird der spektakuläre Fund im Gebäude der heutigen jüdischen Schule in der Malzgasse präsentiert.

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