„Objektive Geschichtswissenschaft gibt es nicht.“

Die Historikerin Eleonore Lappin-Eppel gilt als führende Forscherin über die jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts und hat zu diesem Thema zahlreiche Bücher publiziert.

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© Ronnie Niedermeyer

WINA: Was waren Ihre Beweggründe, sich mit jüdischer Geschichte zu beschäftigen?
Eleonore Lappin-Eppel: Zunächst war ich begeisterte Literaturwissenschaftlerin und wurde als Doktorandin bei Stéphane Mosès an der Hebräischen Universität aufgenommen. Zu meinem großen Erstaunen riet er mir von einem literaturwissenschaftlichen Thema für meine Dissertation ab und meinte: „Gehen Sie in die Forschung!“ In den Jerusalemer Archiven lagen die Nachlässe bedeutender deutscher Denker*innen, für deren Aufarbeitung ich als deutsche Muttersprachlerin prädestiniert war. Ich entschloss mich daher, über eine Zeitschrift zu arbeiten, die Martin Buber in den Jahren 1916 bis 1924 herausgab. Historisch gebildete Kolleg*innen meinten damals: „Das schaffst du nie!“ Tatsächlich musste ich parallel zu meinen Forschungen jahrelang Seminare in jüdischer Geschichte und Geistesgeschichte ablegen und sehr, sehr viel lesen. Glücklicherweise konnte ich Paul Mendes-Flohr als zweiten Doktorvater gewinnen und war so unter der Betreuung von zwei hervorragenden Buber-Forschern. Nur meine Karriere als Literaturwissenschaftlerin war damit vorbei, ich wurde Historikerin.

Wie unterscheiden sich die Zugänge jüdischer Wissenschaftler*innen von denen nichtjüdischer Wissenschaftler*innen innerhalb dieses Feldes?
❙ Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da ich eigentlich immer in gemischten Teams gearbeitet habe. Unterschiede sehe ich zum einen im Wissen um das Judentum. Ich muss gestehen, dass ich mich auch erst in Jerusalem intensiv mit jüdischer Tradition befasst habe. Trotzdem ist es ein Unterschied, ob man mit dem Judentum aufwächst oder ob man sich dem später erst von außen annähert. Ich gehe einerseits unbekümmerter an jüdische Themen heran, weil sie mir vertraut sind, weil ich oft den jüdischen Subtext verstehe. Andererseits setzt mir die Erforschung der „eigenen“ Geschichte schon oft zu, vor allem bei meinen doch sehr intensiven Forschungen zum Holocaust.

 

»Das Interesse an jüdischer Geschichte
in Österreich
hat deutlich zugenommen.«

 

Ein Großteil Ihrer Publikationen befassen sich mit Aspekten der Schoah. Wie ist es Ihnen gelungen, sich immer wieder mit diesem dunklen Kapitel der Menschheit zu beschäftigen, ohne sich allzusehr davon berühren zu lassen?
❙ Wie angedeutet, geht mir die Thematik natürlich nahe. Bei meiner Arbeit kann ich ganz gut abstrahieren und verfolge einfach das Ziel, die Fakten zu bewerten, zu verstehen. Schwieriger sind für mich Interviews, bei denen die Opfer einem sehr unmittelbar entgegentreten. Das kann schon sehr belastend sein. Wirklich „gefährlich“ wird es, wenn ich mir Dokumentationen im Fernsehen ansehe, da bin ich „ungeschützt“ und kämpfe oft mit den Tränen. Was mir letztlich wirklich hilft, ist die wissenschaftliche Routine und die Verpflichtung zur Faktentreue, die zwingen, die Emotionen hintanzustellen.

Inwieweit wird es akzeptiert, dass persönliche Historien und Weltanschauungen die „objektive“ Wissenschaft überhaupt beeinflussen?
❙ Was mir schon meine Forschungen zur Dissertation gezeigt haben, ist, dass es keine „objektive“ Geschichtswissenschaft gibt. Das ist aber kein Freibrief für subjektive Deutungen. Unsere Aufgabe als Historiker*innen ist es, gewissenhaft Fakten zu sammeln und möglichst richtig zu interpretieren. Dabei bringt jede und jeder seine bzw. ihre persönliche Geschichte mit – und dessen sind sich die meisten von uns auch bewusst. Bei der Holocaustforschung fühle ich mich den Opfern verbunden und verpflichtet, ihre Geschichte möglichst genau aufzuarbeiten. Gleichzeitig muss ich mich bemühen, auch die Täter*innen zu verstehen, sonst verstehe ich die geschichtlichen Ereignisse nicht. Nichtjüdische Historiker*innen kommen mit ihrer persönlichen und Familiengeschichte, die sie bei ihren Forschungen begleitet. Wichtig ist, sich an die Fakten zu halten und Interpretationen in Beziehung zu bekannten Fakten zu stellen. Übrigens gibt es nicht nur beim Holocaust, sondern auch bei anderen Themen dieses Phänomen, dass man von verschiedenen Ausgangspunkten aus auf dasselbe Ziel hinarbeitet.

Was hat sich im Laufe Ihrer wissenschaftlichen Karriere an der Rezeption jüdischer Geschichte verändert?
❙ Nicht nur das Wissen, sondern auch das Interesse an jüdischer Geschichte in Österreich hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Die Offenheit für diese Geschichte von Judenverfolgung und zum Teil von Morden im unmittelbaren Lebensbereich ist enorm gewachsen und wird vermehrt als eigene Geschichte akzeptiert. Gleichzeitig wünsche ich mir aber auch, dass die österreichischen Jüdinnen und Juden mehr über die eigene Geschichte erfahren wollen und diese als Teil ihrer Identität sehen.

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