Eine kurze Blüte moderner Denker

1738

Die Universität Wien holt zu ihrer 650-Jahr-Feier in einer Ausstellung den Wiener Kreis zurück aus der Vergessenheit: eine hoch kreative Gruppe von Philosophen, Mathematikern, Physikern und Ökonomen. Text & Fotos: Reinhard Engel

Es gab in Wien vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine bunte Vielfalt von politischen Klubs, unterschiedlichen Künstlergruppen, literarischen Vereinigungen und intellektuellen Debattierkreisen. Wohl der wichtigste war der so genannte Wiener Kreis, ein Diskussionszirkel an der Universität Wien, in dem sich etwas mehr als ein Jahrzehnt lang brillante Köpfe aus unterschiedlichen Disziplinen trafen und die neuesten wissenschaftlichen Theorien diskutierten, ob ihre eigenen oder jene anderer radikaler Erneuerer der Zeit: von Albert Einstein über Bertrand Russell bis zu Ludwig Wittgenstein.

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Bildstatistik von Otto Neurath. Ein Abschnitt der Ausstellung widmet sich der „Wiener Methode der Bildstatistik“, auch Isotype genannt.
Bildstatistik von Otto Neurath. Ein Abschnitt der Ausstellung widmet sich der „Wiener Methode der Bildstatistik“, auch Isotype genannt.

Der engere Kreis, der sich ab 1924 um den Mathematiker Hans Hahn, den Physiker und Philosophen Moritz Schlick und den Ökonomen und Historiker Otto Neurath scharte, umfasste etwa 20 Männer und Frauen. Die Mehrzahl von ihnen waren Juden, Sozialisten – oder beides. Innerhalb der etablierten Wiener Lehre und Forschung, die damals äußerst konservativ geprägt war, sowohl fachlich als auch politisch, stellten sie eine kleine, lautstarke Minderheit dar – und wurden auch bald entsprechend angefeindet. Doch der Zirkel des logischen Empirismus stellte damals auch im internationalen Vergleich eine Reihe herausragender Denker und Wissenschaftler – etwa den Philosophen Rudolf Carnap, den Mathematiker Karl Menger oder den Logiker Kurt Gödel. Menger erinnerte sich später: „In der intellektuellen Atmosphäre der frühen 20er-Jahre in Wien schien alles in eine Richtung hin zu deuten: dass nämlich die Bühne für eine Diskussion auf einer höheren Ebene bereit war. Schlicks Kreis füllte eindeutig eine bestehende Nachfrage.“

Und Carnap beschrieb die wöchentlichen Treffen am mathematischen Institut, an dem auch die besten Studenten mehrerer Fakultäten teilnahmen, folgendermaßen: „Es gab eine offene und undogmatische Haltung bei den Diskussionen. Jeder war stets bereit, seine Ansichten zu überprüfen oder durch andere überprüfen zu lassen. Der gemeinsame Geist war der der Zusammenarbeit, weniger des Wettbewerbs. Das gemeinsame Ziel war, im Ringen um Klarheit und Einsicht zusammenzuarbeiten.“

Dabei wurden natürlich auch die Gegner dieser „reformerischen Bewegung der Philosophie“, wie dies der Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler, einer der Kuratoren der Ausstellung, nennt, klar ausgemacht: der „grassierende Irrationalismus“, die „idealistische Spekulation“ und auch „die Ideologie des autoritären Universalismus“. Ein Zitat möge hier für eine ganze Welt an Aufklärung gegen das Dunkel stehen: Carnap befasste sich etwa mit Martin Heideg­gers Vortrag Was ist Metaphysik? und analysierte diesen als Abfolge sinnloser Aussagen. An Schlick schrieb er von „einer gewaltigen metaphysischen Wolke“. Dahinter verberge sich kein Inhalt.
Diese Haltung wollten die Männer – und wenigen Frauen – im Wiener Kreis nicht bloß innerwissenschaftlich leben, sondern auch hinaustragen in die Gesellschaft. Vor allem Neurath, der sich in Bayern sogar als Räte-Revolutionär versucht hatte und später in Wien in der Siedlerbewegung und im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum aktiv war, drängte in diese Richtung. 1928 gründeten die Proponenten den Verein Ernst Mach, benannt nach dem Wiener Physiker und Philosophen, den sie als einen ihrer wichtigsten Vorläufer ehren wollten. In einem Gründungsaufruf schrieben sie: „Der Verein Ernst Mach will wissenschaftliche Weltauffassung fördern und verbreiten. […] So sollen gedankliche Werkzeuge des modernen Empirismus geformt werden, deren auch die öffentliche und private Lebensgestaltung bedarf.“ In diesem Verein boten die Wissenschaftler in bester Volksaufklärungspraxis in Vorträgen ihre jeweiligen neuesten Erkenntnisse einem breiteren Publikum an.

Die weiten Kreise des Wiener Kreises

Der Name „Wiener Kreis“ stand erstmals auf einer Art Grundsatzerklärung im Jahr 1929, einem Kollektivaufsatz mit dem Titel Wissenschaftliche Weltauffassung. Darin hieß es unter anderem: „Wir haben die wissenschaftliche Weltauffassung durch zwei Bestimmungen charakterisiert. Erstens ist sie empiristisch und positivistisch: Es gibt nur Erfahrungserkenntnis. Zweitens ist die wissenschaftliche Weltauffassung gekennzeichnet durch die Anwendung einer bestimmten Methode, nämlich der logischen Analyse.“

Die Außenwirkung des Wiener Kreises ließ nicht lange auf sich warten: Es gab klare Bezüge zu den Sozial- und Bildungsreformern des Roten Wien, etwa zu Otto Glöckel; die neuen wissenschaftlichen Theorien wurden von Literaten wie Robert Musil, Hermann Broch und Hilde Spiel reflektiert; auf Einladung folgten Vorträge in Dessau bei den Studenten des Bauhauses. Doch das politische Umfeld wurde zunehmend feindlich, die Wiener Universität immer stärker zur Basis von Heimwehrfaschisten und Nazis. Schon bald nach der Ausschaltung des Parlaments emigrierte ein Großteil der Mitglieder des Wiener Kreises; der Verein Ernst Mach wurde von der Polizei aufgelöst; Hahn starb 1934 überraschend; Schlick wurde 1936 auf der Hauptstiege der Uni Wien von einem nationalistischen Fanatiker erschossen – nicht aus politischen Gründen, sondern weil sich dieser im Wahn vom Professor benachteiligt und verfolgt sah. Damit war ein jähes Ende für den hochproduktiven Zirkel gekommen.

Einige der Teilnehmer aus dem engsten Kreis und auch einige Trabanten machten Karriere an amerikanischen Spitzen-Universitäten, etwa Gödel, Carnap, Oskar Morgenstern, John von Neumann oder Richard von Mieses, Mathematiker und Strömungswissenschaftler, der Bruder des Ökonomen Ludwig. Karl Popper, eher in loser Verbindung mit dem Wiener Kreis, aber doch von ihm beeinflusst, wurde in England weltberühmt.

Was blieb vom Wiener Kreis? Laut Wissenschaftshistoriker Stadler „die von ihm aufgeworfenen Probleme, die exakten Methoden der formalen Logik, Mathematik und Sprachanalyse, die empirisch-rationale Grundhaltung und der aufklärerische Anspruch der konkreten Utopie einer humaneren Gesellschaft.“ Viel banaler und praktischer finden sich Ergebnisse der Arbeiten dieser Gruppe im modernen Alltag, der uns umgibt: in Computerprogrammen unserer Laptops, in den Algorithmen des Internet oder in den kleinen Männchen auf den Flughäfen dieser Welt, die auf die volksbildnerischen Piktogramme von Otto Neurath zurückverweisen. ◗

Ausstellung:
Der Wiener Kreis.
Exaktes Denken am Rand des Untergangs.
Universität Wien, Hauptgebäude
Werktags und
Samstag,10–18 Uhr
Bis 31. Oktober 2015

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