„Meinen Mördern in die Augen sehen“

Ein Porträt zum 100. Geburtstag der Poetin und Widerstandskämpferin Hannah Szenes.

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© Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Das Bild der 23-jährigen Frau mit dem braunen Wuschelkopf, deren Vorderzähne von brutalen Folterern ausgeschlagen worden waren, verinnerlichte ich schon mit 12 Jahren. Da kannte ich das später vertonte Gedicht Eli, Eli von Hannah Szenes noch nicht: Es sollte zu meinem Lieblingslied und zur persönlichen Hymne werden. Der Zahnarzt und zionistische Vater hatte mir die heldenhafte Geschichte der gebürtigen Budapesterin sehr anschaulich nahegebracht, die am 7. November 1944 in ihrer Geburtsstadt als Spionin exekutiert wurde.

Der Plan reift. Hannah Szenes willl sich als Freiwillige der britischen Armee anschließen, um 1942/1943. © Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

„Wir möchten Hannah weder als Märtyrerin noch als Heldin in Erinnerung behalten, sondern als jene Freundin, die wir geliebt und bewundert haben von der wir gehofft haben, dass sie mit uns gemeinsam hier alt wird“, sagt Yehuda Rotem, Mitglied des Kibbuz Sdot Yam, dem auch die 1939 nach Palästina eingewanderte Hannah Szenes angehörte. Im jüdischen Jischuw* machte man sich damals viele Gedanken darüber, wie man den europäischen Juden unter der NS-Herrschaft helfen könnte. „Als aus Europa immer mehr Informationen über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung nach Palästina durchsickern und Hannah erfährt, dass man gegen die Hitler-Diktatur kämpfen kann, meldet sie sich 1943 als Freiwillige in die britische Armee“, erinnerte sich Sdot-Yam-Mitglied Aharon Megged, ein berühmter Autor und Dramatiker. Hannah wird Mitglied der „Woman’s Auxiliary Air Force“, beginnt mit dem Fallschirmtraining und erwirbt den Grad der Offizierin.

Die Briten sind bereit, 33 jüdische Fallschirmjäger aus Palästina zum Einsatz zu bringen, aber nur unter der Voraussetzung, dass sie zuerst vom Stützpunkt Brindisi (Italien) aus alliierte Piloten befreien, die hinter feindlichen Linien abgeschossen worden waren. Erst nach Erledigung dieser Mission durften sie ihr eigentliches Ziel umsetzen: Vom Untergrund aus sollten sie verfolgte jüdische Menschen vor der Deportation in die Vernichtungslager retten. Man vermutete damals, dass mehr als eine Million jüdische Männer, Frauen und Kinder noch in Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei lebten.

»Wir möchten Hannah weder als Märtyrerin noch als Heldin in Erinnerung behalten, sondern als jene Freundin, die wir geliebt und bewundert haben.«
Yehuda Rotem

Als einzige Frau sprang sie am 13. März 1944 mit weiteren Kommilitonen über dem besetzten Jugoslawien ab. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 19. März 1944 in Budapest verzögerte die geheime Aktion, und so verbrachte Hannah fast drei Monate bei den Tito-Partisanen. Am 7. Juni 1944, auf dem Höhepunkt der Deportation der ungarischen Juden, überquerte Szenes die Grenze nach Ungarn. Sie wurde bereits am nächsten Tag aufgrund einer Denunziation von der ungarischen Polizei verhaftet.
Als Funkoffizierin wurde sie endlosen Verhören der Gestapo unterzogen aber trotz grausamer Folter und brutaler Misshandlungen gab sie den Code nicht preis, den die deutschen Offiziere benutzt hätten, um die Alliierten irrezuführen.

Fidel. Ein Jahr vor der Auswanderung nach Palästina in Budapest, ca. 1938. © Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Um Hannah doch noch zu brechen, verhafteten ihre Peiniger ihre Mutter Kató und drohten damit, sie vor ihren Augen zu foltern und zu töten. Nach fast fünf Jahren sahen einander die beiden Frauen unter diesen Umständen wieder. Kató Szenes war gelähmt und schockiert, wähnte sie doch ihre Tochter in Sicherheit in Palästina. Aber sie fasste sich so schnell wie Hannah und beide weigerten sich standhaft, den Behörden jene „Vorstellung“ zu geben, die sie sich erhofft hatten.
Die nächsten drei Monate waren Hannah und Kató so nah und dennoch so fern voneinander: Sie litten hinter den gleichen Gefängnismauern, konnten aber nur selten ganz kurze Blicke tauschen. Hannahs Festigkeit ging so weit, dass sie im Gefängnis unermüdlich versuchte, Kontakt mit anderen jüdischen Gefangenen aufzunehmen und sie zum Durchhalten zu ermutigen.

Ein Tagebuch und viele Gedichte. Wer war diese mutige, tapfere Idealistin, die ihr Leben für ihre gefährdeten jüdischen Mitmenschen so heldenhaft opferte? Am 17. Juni 1921 wurde sie als Anikó Szenes in Budapest geboren. Die Familie war bürgerlich-wohlhabend und assimiliert. Der Verlust ihres geliebten Vaters mit sechs Jahren gilt als der erste seelisch belastende Bruch in ihrem Leben. Béla Szenes gehörte als Kinderbuch- und Bühnenautor u. a. am Vígszínház Lustspieltheater zur Elite der Budapester Intelligenzia.

Einen Monat vor der Überquerung der ungarischen Grenze – am 2. Mai –
schrieb Hannah Szenes dieses Gedicht, das letzte in Freiheit:

Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.
Gesegnet die Flamme, die immer brennt in den innersten Winkeln des Herzens.
Gesegnet das Herz, das Würde bewahrt auch in seiner letzten Stunde.
Gesegnet das Streichholz, das sich verbraucht, indem es die Flamme entzündet.

© Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Hannahs eigenes literarisches Talent machte sich von klein auf bemerkbar: Ab ihrem dreizehnten Lebensjahr bis kurz vor ihrem Tod schrieb sie sowohl Gedichte wie auch an ihrem Tagebuch, das bereits 1946 veröffentlicht wurde. Schon während ihrer Schulzeit führten antisemitische Einflüsse in Budapest dazu, dass sie begann, sich für ihre jüdische Herkunft zu interessieren: Sie schloss sich Maccabea, einer zionistischen Schüler- und Studentenbewegung an. Das bis dahin schüchterne Mädchen begann, Sport zu betreiben, widmete sich der Musik, war eine ausgezeichnete Schülerin und erlernte blitzschnell die englische, deutsche und französische Sprache.

In Freiheit. Auf einer Reise durch Galiläa, ca. 1941. © Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Die politisch-gesellschaftliche Entwicklung ab den 1930er-Jahren erlebte Hannah zunehmend als bedrohlich, daher schloss sie sich der zionistischen Bewegung in Budapest an und lernte Hebräisch. Im September 1939 kam sie im damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina an und besuchte die von der WIZO geleitete „Landwirtschaftliche Schule für Mädchen“ in Nahalal (westlich von Nazareth), dem ältesten Moschaw**, der in Hannahs Geburtsjahr 1921 gegründet wurde.
In Ungarn begannen die Deportationen nach Auschwitz-Birkenau im Mai 1944, wobei etwa 424.000 Juden innerhalb von 56 Tagen in Zügen verschickt wurden. Ermöglicht wurde dies vor allem durch die volle Kollaboration der ungarischen Behörden bis Juli 1944: Insgesamt wurden 565.000 ungarische Juden ermordet. Kató Szenes wähnte in dieser Zeit ihre beiden Kinder, Hannah und ihren Bruder György-Giora, in Sicherheit. Erst als sie zu Hannah ins Gefängnis geschleppt wurde, erfuhr sie die Wahrheit. Im September 1944 wurde die Mutter plötzlich entlassen und bemühte sich von da an Tag und Nacht um rechtlichen Beistand für ihre Tochter, der als gebürtiger Ungarin der Prozess als Spionin gemacht werden sollte.

© Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Ende Oktober 1944 wurde Hannah vor ein Militärgericht gestellt, wo sie ihre Aktivitäten wortreich verteidigte und gleichzeitig die Richter warnte: Das Ende des Krieges sei bereits abzusehen, und danach würde ihr eigenes Schicksal in der Waagschale liegen. Hannah wurde zum Tode verurteilt, doch das Gericht legte sich auf keinen genauen Zeitpunkt fest. Doch die eindrückliche Rede und ungebrochene Haltung von Szenes verärgerte den Vorsitzenden, Oberst Simon, er fasste das als persönliche Beleidigung auf. Daher kam er am Morgen des 7. November zu Hannah in die Zelle und bot ihr zwei Optionen: Entweder sie bitte um Gnade, oder man liefere sie dem Exekutionskommando aus. Szenes befand das Gericht als rechtlich nicht zuständig, Milde von ihren Peinigern zu erbetteln, kam für sie nicht in Frage.
Am 7. November 1944, sechs Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Barbarei, wurde Hannah Szenes füsiliert. „Wir sahen sie am Tag der Hinrichtung in einem braunen Rock und langem Militärmantel vor dem Schießkommando im schneebedeckten Innenhof stehen“, erzählte später Susanne Beer, eine der Mithäftlinge. „Hannah verweigerte eine Augenbinde, sie wollte ihren Mördern in die Augen schauen“, fügte Zellengenossin Vera Lajtai hinzu. „Wir klammerten uns mit den Händen aneinander, und als wir die Schüsse hörten, nahmen wir Abschied von Hannah.“

Hannah Szenes im Kibbuz Sdot Yam. © Wikimedia, Nir Maor/Einwanderungs- und Marinemuseum; Israel Zeller via the PikiWiki/Israel free image collection project (Yigal Zalmanson)

Bis heute weiß man nicht, wer ihren Leichnam im jüdischen Friedhof von Budapest begraben hat.
Erst 1950 wurden die Gebeine von Hannah Szenes nach Israel gebracht. In einem Staatsbegräbnis mit Militärkonvoi wurde ihr Sarg auf dem Weg von Kibbuz Sdot Yam zum Militärfriedhof in Jerusalem geführt. Ihr Tagebuch und ihre Gedichte sind in vielen Sprachen übersetzt und verbreitet. Als geheime Hymne, auch in der Diaspora, gilt eines ihrer Gedichte, Eli, Eli, schelo jigamer leOlam (Mein Gott, mein Gott, lass niemals enden). Nur den Wunsch ihrer Mitstreiter*innen im Kibbuz, gemeinsam alt zu werden, konnte sie weder sich noch ihren Freundinnen und Freunden erfüllen.

* Mit Jischuw bezeichnet man die jüdische Bevölkerung und das Gemeinwesen in Palästina vor der Gründung des Staates Israel.
** Der Moschaw ist im Unterschied zum Kibbuz eine genossenschaftlich organisierte ländliche Siedlungsform, deren Güter sich teils in Kollektiv-, teils in Privateigentum befinden.

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