„Nachhaltige kulturelle Präsenz“

Mit dem jährlichen jüdischen Neujahrskonzert etabliert Claudia Prutscher eine neue Tradition. Auch sonst hat die Vorsitzende der Kulturkommission der IKG Wien viele realistische Pläne.

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Claudia Prutscher hat noch viele visionäre Ideen für die kulturelle Arbeit der IKG © Daniel Shaked

WINA: Angesichts der mehrfachen Krisen, wie der Pandemie und der unsicheren Wirtschafts- und Weltlage, trat bei vielen Menschen der Kulturgenuss in den Hintergrund. Wo setzen Sie in dieser Situation an, wo liegen Ihre derzeitigen Schwerpunkte als Verantwortliche für die Kulturagenden der IKG?
Claudia Prutscher: Wir leben sicher in herausfordernden Zeiten, aber grundsätzlich muss ich Ihnen widersprechen: Es ist immer wieder eine Frage der Qualität: Wenn wir hochwertige Veranstaltungen machen, findet sich ein großer Kreis, der interessiert ist und kommt. Daher sehe ich bei unseren Angeboten auch keinen Schwund.
Als Kulturgenießerin erlebe ich das auch persönlich: Wenn attraktiv informiert wird, wie es etwa das Burgtheater mit anregenden kleinen Filmclips macht oder auch unsere IKG-Kulturabteilung, die Veranstaltungen schmackhaft auf den Social-MediaKanälen Facebook, Instagram und Spotify bewirbt, dann funktioniert das. Man erreicht das Publikum heute weniger über Tageszeitungen als über Social Media.

Wie sehen Ihre Pläne für den Kulturherbst 2023 aus?
I Mit großem Erfolg haben wir letztes Jahr etwas begonnen, das wir gerne als Tradition etablieren möchten: In Anlehnung an das berühmte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, jeweils am 1. Jänner im Goldenen Saal des Musikvereins, haben wir anlässlich des jüdischen Neujahrs 2022, Rosch ha-Schana 5783, ein hochkarätiges Neujahrskonzert im Wiener Konzerthaus organisiert, das ausverkauft war. Den Anfang machte damals das Roman Grinberg & The Yiddish Swing Orchestra mit der Sopranistin Ethel Meerhaut und dem deutschen Rapper Ben Salomon. Mein Ziel ist es, „unser“ ⇒Jüdisches Neujahrskonzert fest zu verankern, damit es durch seine hohe Qualität zu einer angesehenen und begehrten Institution wird.

Verraten Sie uns schon das heurige Programm?
I Ja, sehr gerne, der Kartenverkauf für das Konzert am 10. September im Mozartsaal des Wiener Konzerthauses hat ja schon begonnen: Da wir in diesem Jahr das 75-jährige Gründungsjubiläum des Staates Israel als übergeordnetes Motto in fast allen unseren Kulturprogrammen mitschwingen lassen, bieten wir diesmal, unterstützt von den Österreichischen Freunden der Israel Philharmonic, etwas ganz Besonderes: Ein junges Streicher-Ensemble des Israel Philharmonic Orchestra sowie der 23-jährige hochgelobte Pianist Tom Borrow werden unsere Gäste sein. Die jungen Musiker und Musikerinnen des renommierten Orchesters haben gemeinsam mit dem britischen Klaviervirtuosen ein sehr schönes Konzertprogramm zusammengestellt.

„Information und Publicity ist das Wichtigste,
um auf der
Kulturebene wahrgenommen zu werden.“

Wie geht der Kulturherbst nach dem Jüdischen Neujahrskonzert dann weiter?
I Unser Kulturangebot besteht immer wieder aus unterschiedlichen Großveranstaltungen, aber darüber darf man nicht vergessen, dass wir laufend Lesungen, Filmvorführungen – und hoffentlich bald wieder Vernissagen machen werden. Die CovidKrise hat uns schon einiges durcheinander gewirbelt, z. B. musste das große Kantorenkonzert schon zweimal verschoben werden. Aber am 2. November 2023 kann es endlich im Mozartsaal des Konzerthauses stattfinden – diesmal mit wichtigem Israel-Bezug: Zu Gast sind der Jerusalemer 15-köpfige Chor der Großen Synagoge sowie das Slowakische Chamber Orchestra, die gemeinsam mit Oberkantor Shmuel Barzilai auftreten und ein einmaliges musikalisches Erlebnis auf die Bühne bringen werden. Besonders beliebt, weil bunt und vielfältig, ist der „Tag der offenen Tür“, der heuer am 22. Oktober stattfindet. Und im Dezember wird der temperamentvolle Roman Grinberg wieder sein Swinging Chanukka-Konzert geben, das 2022 komplett überbucht war.

Wie weit und womit kann man die sehr unterschiedlichen Gruppen der jüdischen Gemeinde für das Kulturprogramm interessieren?
I Primär muss man wissen, dass in unserer Kulturabteilung jede Fraktion, die in der IKG repräsentiert ist, eine Vertretung hat, die laufend ermutigt wird, ihre Wünsche und Anliegen zu artikulieren, damit wir diese auch realisieren können. Ein gutes Beispiel war das diesjährige Straßenfest am 18. Juni: Die Brüder Meirov Band, eine bucharische Formation mit Trommeln, ist mit großem Jubel gefeiert worden, aber die Band hat sich auch selbst bei uns gemeldet. Ich setze gerne jede Empfehlung um, egal, ob es sich um interessante Buchprojekte oder Künstlerförderung handelt, daher freue ich mich über jeden konkreten Vorschlag.

Mit welcher Kultursparte hatten Sie bei den Jugendlichen bisher den meisten Zuspruch?
I Eine der schönsten Erfahrungen war der Auftritt des Stand-up-Comedians Elon Gold im Globe Theater im letzten Herbst. Da gelang es uns, alle Gruppierungen zusammenzubringen: Von der Orthodoxie bis zu den Säkularen, von den Aschkenazim bis zu den Georgiern und Bucharen war alles wunderbar durchgemischt. Später wiederholte sich dieser Erfolg bei zwei israelischen Stand-up-Comedians: Diese Vorstellungen waren auf Hebräisch und mit jugendlichen Besuchern ausverkauft. Leider gibt es kaum deutschsprachige Künstler:innen dieses Genres, das ist schade, denn das Interesse ist riesig. In schlechten Zeiten waren Komiker und Kabarettisten immer sehr gefragt, denn die Menschen wollen lachen und sich von der Tristesse ablenken.

„Ich setze gerne jede Empfehlung um, egal,
ob es sich um interessante Buchprojekte
oder Künstlerförderung handelt – daher freue ich
mich über jeden konkreten Vorschlag.“
Claudia Prutscher

 

Auf welche Programmangebote reagieren nicht jüdische Kreise am ehesten?
I Das Interesse erstreckt sich über zahlreiche unterschiedliche Gebiete: Wir haben sowohl viele nicht jüdische Stammgäste beim Straßenfest wie auch bei den diversen Musikprogrammen. Bei unseren Veranstaltung bewerben wir aktiv den Kultur-Newsletter der IKG*, so haben wir schon rund 1.000 Newsletter-Empfänger:innen und eine Öffnungsrate von 50, das ist eine hervorragende Rate – ab 20 Prozent ist es schon super. Dieses Publikum ist meist zwischen Mitte 30 und Mitte 60 und will die jüdische Kultur in all ihren Facetten kennenlernen. Dabei wollen sie nicht nur nach hinten, also in die Vergangenheit blicken, sondern erfahren, was es heute gibt.

Sie haben sich sehr aktiv bei der Flüchtlingskrise 2015–2016 engagiert: Gemeinsam mit der Autorin und Köchin Parvin Razavi und dem Musiker Wolfgang Schlögl haben Sie den Verein „cardamom & nelke“ gegründet. Der Verein hat vielen Künstlern und Musikerinnen geholfen, in Österreich ein berufliches Netzwerk aufzubauen und sich hier zu etablieren. Konnten Sie diese Erfahrungen jetzt auch bei den Ukraine-Flüchtlingen anwenden?
I Leider haben sich kaum ukrainische Kreative gemeldet. Beim Straßenfest 2022 ist die Kiewerin Anna Kypiatkova mit ihrem Saxofon aufgetreten und hat auch wunderschöne jiddische Lieder gesungen. Ich bin immer offen, Neues zu bringen, egal, in welcher Kunstrichtung, aber man muss sich bei uns melden, oder wir reagieren auf eine Empfehlung hin. Ich setze gerne Projekte mit viel Herzblut um und arbeite gerne mit interessanten Partnern zusammen. So auch zum Beispiel mit dem Magazin WINA, das mit den Jahren zu einer Visitenkarte der jüdischen Gemeinde geworden ist.

Was liegt Ihnen besonders am Herzen, was möchten Sie unbedingt erreichen?
I Information und Publicity ist das Wichtigste, um auf der Kulturebene wahrgenommen zu werden. So sehr uns die Pandemie auch zu schaffen gemacht hat – etwas Positives konnten wir in dieser Zeit dennoch ins Leben rufen: Der Podcast von Avia Seeliger mit dem Titel Chuzpe, in dem sie unter anderem Künstler:innen aller Sparten interviewt, hat voll eingeschlagen und kann auch im IKG-Archiv nachgehört werden.
Rebecca Eder ist unsere engagierte neue Mitarbeiterin für den Bereich Social Media und deren Auswertung. Überraschend ist ihre jüngste Erhebung: Rund 90 Prozent Frauen und nur zehn Prozent Männer zählen zur treuen Podcast-Hörerschaft. Etwa 50 Prozent der Hörer:innen kommen aus Deutschland, 35 Prozent aus Österreich, vier Prozent aus der Schweiz, drei Prozent aus Israel und ebenfalls drei Prozent aus den USA. Vereinzelt haben wir sogar Hörer:innen aus Indien oder Singapur. Für die Kulturabteilung unter der Leitung von Karen König ist es wichtig, dass man uns auf Instagram und Facebook unter @ikg.kultur taggen kann.

Stimmt es, dass Sie an einem neuen Format arbeiten?
I Das stimmt, ich bin so begeistert von diesem Projekt, dass ich sogar ein kleines Budget dafür frei gemacht habe, und der Pilot ist schon im Entstehen: Der Wiener Fotograf Daniel Shaked und der Berliner Musiker und Tonmeister Robert Summerfield haben das Projekt Die gläserne Wand entwickelt. Dabei geht es um die Verschränkung von Hörspiel und Fotos beim Gespräch mit jüdischen Menschen aller Altersgruppen und Herkunftsländer, die über ihre Lebenserfahrungen berichten und wo sie eben an Grenzen gestoßen sind. Dabei geht es um Erlebnisse von Rückkehrern nach 1945, aber auch um junge Zuwanderer:innen und deren „gläserne Wand“. Wir fangen mit fünf Folgen an und haben schon interessante Gesprächspartner:innen gefunden, die bereit sind zu erzählen. Das Projekt freut mich deshalb so sehr, weil es nachhaltig ist, diese persönlichen Geschichten aus der Gemeinde bleiben erhalten.

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