Der jüdische Gedenk- und Fastentag Tisha b’Av, den wir in diesem Jahr Ende Juli begehen, markiert das Ende einer Trauerzeit, in der man der Reihe von Ereignissen gedenkt, die zur babylonischen Eroberung Jerusalems und zur Zerstörung des ersten Tempels führten. Sechshundert Jahre später haben römische Legionen die bröckelnden Verteidigungsanlagen Jerusalems durchbrochen, den wieder aufgebauten zweiten Tempel zerstört und einen Aufstand niedergeschlagen, der das jüdische Volk ins Exil trieb.

Tisha b’Av ist ein dunkler Tag der Trauer, an dem wir uns den emotionalen und spirituellen Schmerz der Zerstreuung unseres Volkes bewusst machen. Er bietet uns damit die Gelegenheit, unserer Geschichte zu gedenken und uns den Lehren, die wir aus ihr ziehen, zu widmen: Ausgrenzung, Vorurteile und Zwietracht führen zu Tragödien. Die gemeinsame Hoffnung auf Freiheit, die Kraft kollektiven Handelns und die spirituelle Einheit in unserer Vielfalt machten und machen uns resilient und stark.

Derzeit erleben wir vielerorts autokratische Tendenzen. Gewählte Politiker höhlen aus ihrem Amt heraus die Demokratie aus und genießen dennoch weiterhin die Unterstützung großer Teile ihrer Wählerschaft. Wirtschaftliche Not und das Schüren von Zukunftsängsten funktionieren immer noch. Und währenddessen können Sündenbock-Narrative und Feindbilder durch die mediale Allmacht bis in die Schlafzimmer getragen werden. Starke Männer, die schnelle Antworten auf die Komplexität unserer Welt anbieten und sich dabei als Beschützer der Nation gerieren, haben damit ein leichtes Spiel.

Wir wissen aber, weil wir aus der Geschichte schmerzhaft gelernt haben, dass unser aller Freiheit auf dem Fundament der Demokratie beruht. Sie sichert unsere Vielfalt, unsere Chancengleichheit und den Frieden. Deshalb sind wir in allen Gesellschaften verpflichtet, die Integrität demokratischer Institutionen zu schützen und sicherzustellen, dass sie für politische und wirtschaftliche Interessen unempfindlich bleiben.

Die Bilder und Nachrichten, die uns heuer rund um Tisha b’Av begleiten, verdeutlichen, dass die Kultur des (politischen) Dialogs, des Verständnisses und des Zusammenhalts vielerorts in weite Ferne gerückt ist, nicht nur dort, wo Aggressoren einst die Tempel zerstört haben. Die Lehren aus der Geschichte sind universell und sie verpflichten uns, die Hoffnung nicht aufzugeben, in Herausforderungen auch die Chancen zu erkennen und die Kraft kollektiven Handelns für Veränderungen zu nützen. Vorausgesetzt, wir bleiben kompromissbereit und offen für Dialog und setzen uns weiterhin gemeinsam für Frieden und Gleichheit in unserer Vielfalt ein.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Sommer, friedliche Stunden in strahlender Sonne und viel Lesevergnügen an kühlen Plätzen.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here