Plötzlich gibt es Busse am Schabbat

Immer mehr Bürgermeister machen den öffentlichen Verkehr am Wochenende möglich und setzen damit um, was die Mehrheit der Bevölkerung sich längst wünscht – und wozu die nationale Politik bisher nicht in der Lage war.

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Der Nahverkehr in Israel passt sich immer mehr den Bedürfnissen an: 70 Prozent der Bevölkerung ist für eine Beförderung am Schabbat. ©flash90

Das Land befindet sich weiter im politischen Limbo. Derweil tickt die Uhr lauter. Benny Gantz hat noch bis zum 20. November Zeit, um zu tun, was Benjamin Netanjahu vor ihm nicht schaffte – eine Regierung zu bilden. Gelingt es auch ihm nicht, kann immer noch ein Knessetabgeordneter mit einem weiteren und letzten Versuch beauftragt werden. Ihm stünden in diesem Fall noch 21 Tage zur Verfügung. Falls alles scheitert, gibt es zu Purim Neuwahlen.
Interessanterweise hat nun genau dieser Schwebezustand revolutionäre Dinge in Gang gebracht. Schon seit dem Sommer gibt es nämlich erstmals am Schabbat einen regelmäßigen Busverkehr im Großraum Tel Aviv. Der Bürgermeister von Ramat Gan hatte seine Stadtratsabgeordneten darüber eigens abstimmen lassen und die 15:6-Entscheidung auf Facebook gepostet. Zwei Linien fahren seither am Freitag abends/nachts und samstags tagsüber. Die Bürgermeister von Giv’atajim und Ramat haScharon ziehen mit. Ärmere Kollegen schauen sich gerade nach Finanzierungsmöglichkeiten um.
Bald könnte es also ein richtiges Transportnetz geben, das Tel Aviv mit vielen seiner Vorstädte auch am Wochenende verbindet. Die Tel Aviver Stadtverwaltung selbst sucht gerade offiziell nach einem privaten Betreiber. Bereits im Januar 2020 sollen hier dann halbstündig Busse im Einsatz sein, ohne dass irgendeine nationale Instanz darüber befunden hätte. Tel Aviver dürfen sie sogar kostenlos nutzen. Und all das passiert plötzlich ohne großen Aufschrei.

Einer Umfrage der Organisation Chidusch nach sind 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für eine zumindest eingeschränkte Beförderung am Schabbat.

Die Forderung nach einem öffentlichen Nahverkehr am Wochenende und an den Feiertagen gibt es schon lange. Nach einer Umfrage der Organisation Chidusch, die sich für religiöse Freiheit und Gleichheit einsetzt, sind 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für eine zumindest eingeschränkte Beförderung am Schabbat.
66 Prozent der Befragten halten die Stadtverwaltungen dafür zuständig. Doch war der Streit um Transport am Schabbat bisher stets Teil des Kulturkampfs gewesen. Ausgetragen wurde er zwischen Religiösen und Säkularen in der Knesset und bei den Koalitionsverhandlungen. Jahrzehntelang gab es an dieser Front keine Veränderungen. Dass sich jetzt etwas bewegt, hat nicht nur mit dem politischen Limbo zu tun. Es ist auch eine Frage des neuen Framings. Denn die Busse werden im Namen von sozialer Gerechtigkeit eingesetzt. Wer über kein eigenes Auto verfügt, kann sich in der Regel auch kein Taxi leisten, um am Wochenende Familie oder Freunde zu besuchen. Die zusätzlichen Busse sollen es nun jedem Opa ermöglichen, mit dem Enkel den Schabbat am Strand zu verbringen. Es ließen sich die Bürger ohne Führerschein, Teenager, Touristen und Studenten, die sich durchs Kellnern am Wochenende über Wasser halten, hinzufügen. Um die politische Brisanz weiter zu entschärfen, ist deshalb auch nicht die Rede vom Einsatz „öffentlicher Verkehrsmittel“. Das Ganze läuft vielmehr unter der Sparte „Sonderfahrten“, die Passagiere von A nach B bringen sollen, auch wenn diese an ganz normalen Bushaltestellen aufgesammelt werden.
Im Grunde aber passt sich der Nahverkehr damit nur den Verhältnissen an. Eine Studie des Instituts für zionistische Strategien aus dem Jahr 2016 fand heraus, dass fast alle Kinos und Nationalparks sowie Museen und kulturelle Institutionen am Samstag offen waren, und sogar 20 Prozent aller Einkaufszentren, während nur 161 Buslinien operierten – also gerade einmal 0,75 Prozent von allen existierenden Linien – wobei die Hälfte davon auf den arabischen Sektor beschränkt ist.

Bald könnte es also ein richtiges Transportnetz geben, das Tel Aviv mit vielen seiner Vorstädte auch am Wochenende verbindet. Die Tel Aviver Stadtverwaltung selbst sucht gerade offiziell nach einem privaten Betreiber.

Organisationen wie Shabus und Noa Tnua, die sich durch Crowdfunding finanzieren, haben bereits vor einigen Jahren damit begonnen, regionale Busse für die Anwohnerinnen und Anwohner säkularer Nachbarschaften am Schabbat zu betreiben. Den Auftakt als Stadtoberhaupt hatte dann der Bürgermeister der Stadt Tiberias, Ron Kobi, gemacht. Er war im vergangenen Herbst gewählt worden, nachdem er im Wahlkampf versprochen hatte, dass „jeder den Schabbat so genießen können soll, wie er es gerne möchte“. Zu seinen ersten Handlungen gehörte die Einführung von Bussen am Wochenende.

Die immer zahlreicheren Bürgermeister argumentieren im Namen des Kampfes gegen soziale Diskriminierung und finden auch Zustimmung bei den Parteien. Benny Gantz, Yair Lapid und Avigdor Lieberman begrüßen ihre Initiativen. Konkret herumschlagen allerdings müssen sich die Stadtoberhäupter mit zwei Ministern, die ganz und gar nicht mit dem Trend einverstanden sind: Der amtierende nationalreligiöse Verkehrsminister Bezalel Smotrich und der amtierende Innenminister Arye Deri von der ultraorthodoxen Shas-Partei suchen nach Möglichkeiten, um den Bussen Einhalt zu gebieten. Das aber ist nicht so leicht in dieser Übergangsphase. Womöglich haben sie auch Angst, Proteste auszulösen, die säkulare Wählerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl mobilisieren könnten. Ihr Protest ist jedenfalls ausgesprochen verhalten.


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