„Schäm dich, Europa!“

Susanne Scholl hat in den Corona-bedingten Lockdowns Ernüchtendes zur Verfasstheit Europas zusammengetragen. In einer Streitschrift führt sie vor, dass das moderne Europa auf Lügen aufgebaut ist. Wer der Zukunft eine Chance geben wolle, müsse aber die historische Wahrheit verteidigen.

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Seit Jahren ist die frühere ORF-Journalistin und langjährige Auslandskorrespondentin Susanne Scholl eine wortgewandte Mahnerin der Zivilgesellschaft. Unverblümt äußert sie, was sie sich denkt, zum Umgang mit Geflüchteten, zu Populismus, zum Rechtsruck. Die „Omas gegen Rechts“, in deren Vorstand sie seit 2017 Mitglied ist, versteht sich als „Plattform für zivilgesellschaftlichen Protest“. Zuletzt hielten Scholl und ihre Mitstreiterinnen vor allem Mahnwachen für die Geflüchteten von Moria ab.
In ihrer nun veröffentlichen Streitschrift geht sie nicht nur mit der Gesellschaft insgesamt, sondern auch mit sich selbst hart ins Gericht. „Wir haben versagt“, schreibt sie da. „Meine Generation, aber auch die Generation vor uns. In Österreich hat man einer Geschichtslüge noch eine zweite übergestülpt. Wir waren nicht nur ‚das erste Opfer‘, wir haben auch die ‚Stunde Null‘ erklärt. Beides war gelogen.“ Man habe sich zufriedengegeben mit dem Versprechen, dass die Zivilisation gerettet und die Barbarei vorbei sei. Nie mehr werde geschehen, was nie hätte passieren dürfen und doch passiert sei. Und nun wieder passiere.

„Und ich denke daran, dass ich nicht hier wäre, um dagegen aufzustehen, wenn meine Eltern an der Grenze zu England zurückgewiesen worden wären, als die Nazis ihnen nach dem Leben trachteten.“

Ausgrenzung. Scholl zeigt auf, dass die Menschheit offenbar immer einen Feind brauche. Nach dem Zerfall der Sowjetunion fehlte ein solcher. Mit dem 1. September 2001 war jedoch ein neues globales Feindbild da: die Muslime. „Und da gibt es jede Menge Kürzel. Ein Name zum Beispiel. ‚Auch wieder so ein Mohammed‘ – und alle wissen, was gemeint ist. ‚So ein Kopftuchweib‘ – auch das verstehen alle.“ Scholl verweist dabei auf den Streit um den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim. „Man musste nur die ‚Ostküste‘ erwähnen – und alle wussten, was gemeint war.“ Ausgrenzung beginne mit Sprache, argumentiert sie.
2015 habe die Zivilgesellschaft in Österreich gezeigt, wie stark sie sein könne. „Man half, weil man Mensch war und andere Menschen nicht einfach verkommen lassen wollte.“ Nun, mehr als fünf Jahre später, spreche man von offizieller Seite nur noch davon, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. „Was aber – frage ich – darf sich da nicht wiederholen? Die Menschlichkeit, die Hilfsbereitschaft, das Mitgefühl, die Solidarität? Was heißt das für uns, für diese Gesellschaft, für unser aller Leben?“
Im Mai 1945 seien die Nazis besiegt worden, so habe man es gelernt in Europa. Doch wo seien all jene gewesen, die mitgelaufen seien? Vergangenheit vergehe erst, wenn man aus ihr gelernt habe, betont Scholl. „Was wir alle nicht getan haben.“ Und eben auch Europa nicht. Europa behaupte, ein Friedensprojekt zu sein, aber heute werde an seinen Grenzen auf jene geschossen, „die vor Tod, Gewalt und Folter, vor Hunger uns Angst fliehen“. Es werde darüber diskutiert, wer leben und wer sterben solle. „Und ich denke daran, dass ich nicht hier wäre, um dagegen aufzustehen, wenn meine Eltern an der Grenze zu England zurückgewiesen worden wären, als die Nazis ihnen nach dem Leben trachteten.“
Scholl zeigt sich in dieser Streitschrift einmal mehr als die Streitbare, die sie seit Jahren unermüdlich ist. Sie bringt Gedanken zu Papier, die in kleinsten Szenen generelle Entwicklungen widerspiegeln: Worum ging es damals, zu Beginn der Pandemie, im März 2020: Da wurden Supermärkte gestürmt, um Toilettenpapiervorräte anzulegen. Und das, obwohl klargestellt wurde, dass Geschäfte mit Artikeln des täglichen Bedarfs durchgehend offen bleiben würden. Der Mensch ist sich selbst am nächsten, so das Fazit. Im Großen wie im Kleinen. Die Coronapandemie verdrängte die Flüchtlingskrise aus den Schlagzeilen. Scholl richtet nun wieder einen Scheinwerfer auf sie.

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