Wenn man nicht hineinpasst

Simone Somekh lässt seinen Debütroman Weitwinkel in der ultraorthodoxen Gemeinde von Brighton in den USA beginnen. Er erzählt darin eine Geschichte über Enge und Ausbrüche, über Abschiede und Neuanfänge.

1931
Simone Somekh: Weitwinkel. Roman. Haymon Verlag 2019, 224 S., € 19,90

Die Kramers sind von Geburt an jüdisch, nur gelebt haben sie die Religion als Kinder und Jugendliche nicht besonders intensiv. Im Erwachsenenalter und als Paar suchen sie die Nähe zu Gott – und finden sie in der ultraorthodoxen Gemeinde im US-amerikanischen Brighton. Das Richtige zu tun und anerkannter Teil der Community zu sein, dem gilt fortan ihr ganzes Streben. Doch Sohn Ezra Kramer will da nicht ganz hineinpassen. Er entwickelt sich zu einem Freigeist, der zwar die vorgegebenen Regeln vorerst nicht bricht, aber doch ständig Dinge in Frage stellt und seine Eltern damit zum Verzweifeln bringt.
Als er eine Kamera geschenkt bekommt, ist diese zugleich Fluch und Segen. Sie ist die Brücke zu seinem späteren Leben als Fotograf. Sie verführt ihn aber auch zum Überschreiten der engen Grenzen in seiner Gemeinde. Als er ein Mädchen auf der Toilette seiner streng orthodoxen Schule fotografiert, muss er diese verlassen. Die zwar ebenfalls jüdische, aber liberale Schule, die er danach besucht, eröffnet ihm neue Perspektiven.
Weitwinkel ist allerdings weder nur eine Coming-of-age-Geschichte noch eine der inzwischen vielen Aussteigerstorys aus einer orthodoxen Community. Verhandelt wird hier in einem Nebenstrang, der sich nach und nach zur Hauptgeschichte entwickelt, das in der Ultraorthodoxie als Tabu behandelte Thema Homosexualität. Denn nicht nur Ezra bricht aus der Brightoner Gemeinde aus.

Simone Somekh hüpft von Lebensstation zu Lebensstation, offenbar immer das – sehr gelungene – Ende schon im Blick. © Haymon Verlag

Die Geschichte entwickelt sich sowohl rasant wie auch spannend, dabei bleiben die Details wie auch die Genese des Wandels des Ich-Erzählers Ezra aber etwas auf der Strecke. Somekh hüpft von Lebensstation zu Lebensstation, offenbar immer das – sehr gelungene – Ende schon im Blick. Der Plot hätte so viele Möglichkeiten geboten, die eine oder andere Figur noch schärfer zu entwickeln.
Was Somekhs Aussteigergeschichte mit anderen gemeinsam hat: Wenn im Roman mit der Religion gebrochen wird, gilt vielfach „alles oder nichts“. Viele nicht observant lebende Juden essen dennoch kein Schweinefleisch und halten zumindest Jom Kippur. Diese Protagonisten aber, die von klein auf strikt koscher leben, werfen im Erwachsenenalter alles über Bord. Vielleicht gibt es, wenn es um Religion geht, tatsächlich nur schwarz oder weiß, in der Wirklichkeit leben aber viele Menschen auch recht gut mit Zwischentönen.
Wenn die Fesseln zu eng werden, muss man sich befreien. Dass dies zuweilen Schwere mit sich bringt, erzählt auch Somekhs Protagonist Ezra. Die eigene Geschichte lässt sich eben schwer abschütteln.

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