Widerstand gegen die Gleichgültigkeit

Zum 100. Geburtstag des polnischen Politikers, katholischen Widerstandskämpfers und hundertfachen Judenretters Władysław Bartoszewski.

1903
Władysław Bartoszewski. Er hat das Werk der Bestie im Menschen gesehen, auch wenn die Bestie mit dem Aufwand von Millionen Leben zerschlagen werden konnte. © Urban, Marco / SZ-Photo / picturedesk.com

„Leben um jeden Preis, das ist eine Schande. Jedenfalls für mich.“ So lautete nur einer der kompromisslosen Leitgedanken jenes Mannes, dessen stürmisch bewegte Geschichte für drei Menschenleben ausgereicht hätte. Schon seit frühester Jugend lieferte Władysław Bartoszewski den Beweis dafür, dass – wie es in einem seiner 40 Bücher heißt – „es sich lohnt, anständig zu sein“. Den hohen Preis für diesen risikoreichen, leidvollen, aber würdigen Weg spielte der äußert Bescheidene immer herunter. Die Ehre, dass ihm 1965 von der Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem der Titel eines „Gerechten unter den Völkern“ verliehen wurde, teilt er mit dem Stichtag 1. Januar 2021 mit 7.177 weiteren Polen.*
Die weitaus größere Auszeichnung für einen katholischen Polen war die Ehrenbürgerschaft von Israel. Diese wurde Władysław Bartoszewski 1991 im israelischen Parlament, der Knesset, verliehen. Als Mitglied des Rats für die Unterstützung der Juden (Żegota) war er an der Rettung zehntausender Juden im von den Nazis besetzten Warschau beteiligt. Die Hilfe bestand unter anderem in der Beschaffung von falschen Personalpapieren, Geld, medizinischer Hilfe und der Vermittlung von Verstecken. Aber wer war dieser mutige, aufrechte Mann, der unbeirrt allen unmenschliwchen politischen Systemen die Stirne bot und für seine unerschütterlichen Prinzipien nicht nur ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde, sondern auch in kommunistischen Gefängnissen jahrelange Haftstrafen erduldete? Władysław Bartoszewski wurde 1922 als Sohn eines bildungsbürgerlichen Bankangestellten geboren und bestand seine Matura 1939 in Warschau. Bereits als 18-jähriger Mitarbeiter des polnischen Roten Kreuzes geriet er am 19. September 1940 bei einer Straßenrazzia in die Fänge der deutschen Besatzer. Drei Tage später wurde er als Gefangener mit der Nummer 4.427 mit weiteren 1.705 Häftlingen in das Stammlager des KZ Auschwitz deportiert. Auschwitz war damals, von einigen deutschen Kapos abgesehen, ein fast ausschließlich „polnisches“ Lager, in dem Widerständler und Angehörige der Intelligenz festgehalten und gequält wurden. Das polnische Rote Kreuz bemühte sich um Bartoszewskis Freilassung – diese gelang im April 1941 aber nur, weil er inzwischen schwer erkrankt war.
Der zeitlebens gläubige Katholik sagte danach: „G-tt wollte nicht, dass ich Auschwitz überlebe, damit ich mich selbst bemitleide, sondern dass ich Zeugnis über die Wahrheit ablege.“ Sein Überleben „der Hölle von Auschwitz“ betrachtete er als lebenslange Verpflichtung, Zeugnis abzulegen. Er verfasste unter anderem den ersten illegal publizierten Auschwitz-Bericht. Gleich nach seiner Freilassung schloss er sich der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung Polens an. Enge Freunde machten ihn 1942 mit der Dichterin Zofia Kossak bekannt, die zu den Initiatoren der Hilfsorganisation Żegota gehörte, der christlich-jüdischen Geheimorganisation, die schätzungsweise 40.000 Juden das Leben retten konnte. Bartoszewski arbeitete in dieser gefahrvollen Untergrundorganisation unter anderem mit Leon Feiner, dem Vertreter des Bunds, sowie mit Adolf Berman, dem Repräsentanten des Jüdischen Nationalrats, zusammen. Seine Aufgabe bestand darin, Berichte über die Lage der Juden in Polen unter der NS-Besatzung nach England und die USA zu schicken.

Gefragter Diskussionspartner und Vortragsredner. „Aber man muss doch auch an das Martyrium der anderen erinnern. Nicht alle, vorsichtig ausgedrückt, verstehen das.“ © Urban, Marco / SZ-Photo / picturedesk.com

„G-tt wollte nicht, dass ich Auschwitz überlebe,
damit
ich mich selbst bemitleide,
sondern dass ich Zeugnis
über die Wahrheit ablege.“
Władysław Bartoszewski

 

Der damals 22 Jahre alte Bartoszewski war auch von der ersten Stunde des Warschauer Aufstands am 1. August 1944 bis zu dessen Ende 63 Tage später dabei. Bei einem klandestinen Rundfunksender, der Tag und Nacht die Bewohner Warschaus informierte, schilderte er die aktuelle Lage in der Stadt: „Was ein paar Straßen weiter geschah, musste kommuniziert werden, sonst tappte man in eine Falle und riskierte eine Festnahme“, schrieb er später. Nach der endgültigen Niederschlagung des Aufstands am 3. Oktober 1944 gelang Bartoszewski mit einigen anderen Widerstandskämpfern die Flucht aus Warschau – sie konnten einen deutschen Soldaten mit einer Flasche Wodka und 40 Golddollar bestechen.
Nach Kriegsende führte Bartoszewski sein Polonistik-Studium an der Universität Warschau fort, nachdem er zuvor nur an Kursen der „Fliegenden Universitäten“ teilnehmen konnte. Dieser Unterricht fand in Privatwohnungen statt, denn die deutschen Besatzer hatten alle höheren Bildungseinrichtungen für Polen geschlossen.
Bereits 1946 geriet Bartoszewski, der sich inzwischen der einzig legalen Oppositionspartei, der Bauernpartei PSL, angeschlossen hatte und als Journalist für diese arbeitete, ins Visier der polnischen Staatssicherheit: Von November 1946 bis April 1948 und von Dezember 1949 bis August 1954 – in der Phase des Hochstalinismus – verbrachte er insgesamt sechs Jahre in Gefängnissen. Erst 1955 wurde er rehabilitiert und konnte als Historiker und Publizist arbeiten. Von da an wurde er nicht müde, „seinen Polen“ verständlich zu machen, welchen menschenunwürdigen Erniedrigungen und brutalem Terror ihre jüdischen Mitbürger ausgesetzt gewesen waren. Über die jüdischen Helden während des Aufstands im Warschauer Ghetto (19. April bis 16. Mai 1943) sprach er auch noch am Wochenende vor seinem Tod am 24. April 2015: Er hatte noch an den Gedenkfeiern zum 72. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Getto teilgenommen. Während der kommunistischen Herrschaft in Polen erlebte der Historiker und Publizist ständige Zensur, Bespitzelung und Überwachung. Ein halbes Jahr nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 wurde Bartoszewski als prominenter Aktivist der Solidarność-Bewegung wie viele andere führende Mitglieder erneut verhaftet. Mit Hilfe einer befreundeten Familie konnte er befreit werden. In den Folgejahren bemühten sich österreichische und deutsche Freunde, Władysław Bartoszewski Gastprofessuren im Westen zu vermitteln, damit er zeitweilig im Exil Vorträge halten konnte. Einladungen kamen unter anderen von der Ludwig-Maximilians Universität München sowie der Universität Augsburg.

Der Mensch hat die Tendenz, sich nur
an das eigene Martyrium zu erinnern. […]
Dann beginnt ein Wettlauf des Leids,
der sinnlos ist. Vollkommen sinnlos.“

Władysław Bartoszewski

Die verstohlenen Treffen mit dem Professor. Das unschätzbare Privileg, diesen außergewöhnlichen Menschen kennenzulernen, hatte ich Mitte der 1980er-Jahre in einem Wiener Kaffeehaus gegenüber vom Stephansdom. Dr. Kurt Skalnik, Chefredakteur der katholischen Wochenzeitung Die Furche, hatte das Treffen arrangiert. Skalnik, der von 1974 bis 1994 auch Präsident des Österreichischen Presseclubs Concordia war, kannte Bartoszewski schon seit den 1960er-Jahren, weil er zahlreiche katholische Oppositionelle und Publizisten in den osteuropäischen kommunistischen Staaten unterstützte: Er half bei der Veröffentlichung von Samisdat-Texten im Westen. Für seinen Freund Bartoszewski übermittelte er sogar Nachrichten an Radio Free Europe. Kurt Skalnik bemühte sich, seinem Freund und dessen lebensrettenden Taten in Österreich und Deutschland größere mediale Aufmerksamkeit und öffentliche Anerkennung zu verschaffen. Denn obwohl Bartoszewski in der zweiten Jahreshälfte 1963 nach langem Bemühen einen polnischen Reisepass erhielt, war seine Geschichte nicht ausreichend bekannt. Und das, obwohl ihn seine allererste Reise nach Israel führte: Dort traf er ausgewanderte Freunde, jüdische Polen, Überlebende des Warschauer Ghettos, die ihn als „aktivsten polnischen Helfer bei der Rettung von Juden im besetzten Warschau“ bezeichneten und in Yad Vashem Zeugnis davon ablegten. Die Zeremonie für die Auszeichnung des Gerechten unter den Völkern fand 1965 in Wien in der israelischen Botschaft statt. Mein erster Eindruck, Bartoszewskis unglaubliche Bescheidenheit, festigte sich bei den Interviews mit ihm, aber auch in den folgenden Jahren, als er in Deutschland als „Vater der deutsch-polnischen Versöhnung und Verständigung“ gefeiert und herumgereicht wurde. Sein inniges Bemühen um Verständigung verzichtete aber nie darauf, Verbrechen, Unrecht, Täter, Mitschuldige und Mitläufer auf allen Seiten deutlich und differenziert zu benennen. Auch als er viel später als polnischer Botschafter und zweimaliger Außenminister nach Wien kam**, hatte er sich durch seine Prominenz menschlich nicht verändert: Er grüßte Menschen, die er aus früheren Zeiten kannte, und fand immer ein paar Minuten für sie. Eine ganze Reihe seiner seit Anfang der 1960er-Jahre publizierten Bücher, die sich mit der Erfahrung nationalsozialistischer Besatzungspolitik in Polen, der Schoah und der Nachkriegsgeschichte seines Landes, der polnisch-jüdischen sowie deutsch-polnischen Verständigung befassen, sind auch auf Deutsch erschienen. Doch nirgends hat er so ausführlich und eindringlich Auskunft gegeben über die Urerfahrung, die seinem Engagement zugrunde lag – seine Haftzeit im KZ Auschwitz –, wie in Mein Auschwitz und in Uns eint vergossenes Blut.
Seit 1990 bis wenige Jahre vor seinem Tod saß Bartoszewski im Vorstand des Internationalen Auschwitzkomitees. Er war für dieses Amt vorgeschlagen worden, weil er das Vertrauen von polnischen und jüdischen Überlebenden gleichermaßen genoss. Sein besonderes Anliegen bestand auch darin, die „Opferkonkurrenz“ bekämpfen: „Der Mensch hat die Tendenz, sich nur an das eigene Martyrium zu erinnern. Aber man muss doch auch an das Martyrium der anderen erinnern. Nicht alle,vorsichtig ausgedrückt, verstehen das. Dann beginnt ein Wettlauf des Leids, der sinnlos ist. Vollkommen sinnlos.“

Als gefragter Diskussionspartner und Vortragsredner prangerte er laufend wortgewaltig und bis zu seinem letzten Auftritt den aufkeimenden Antisemitismus in Polen wie auch weltweit an. Bei aller Ernsthaftigkeit konnte er selbstironisch und sehr humorvoll sein. Aber das Beeindruckendste an diesem auch im körperlichen Sinne großen Mann, war nicht nur sein widerständiger Geist gegen jede Form der Unterdrückung: Noch größer war sein Widerstand gegen Gleichgültigkeit und deren Duldung: „Für denkende Menschen, insbesondere für jene, die an G-tt glauben, führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass zu den Schuldigen nicht nur die unmittelbaren Täter gehören, sondern auch die Gleichgültigen. Denn Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen ist die größte Sünde.“
Wie erschreckend aktuell Władysław Bartoszewskis Worte besonders heute sind, zeigt sich an jenen Gedanken, die er im österreichischen Parlament am 5. Mai 2010 zum Gedenktag der Befreiung des KZ Mauthausen ausdrückte: „Wenn einer dem unvorstellbaren Bild von Leichenhaufen und Bergen menschlicher Asche gegenübersteht, dann empfindet er keine Freude über die Befreiung. Er empfindet nur Trauer, denn er hat das Werk der Bestie im Menschen gesehen, auch wenn die Bestie mit dem Aufwand von Millionen Leben zerschlagen werden konnte. Er empfindet Schmerz. Und er empfindet schließlich Angst, ob diese Bestie je gänzlich aus der menschlichen Seele zu entwurzeln, zu verbannen und auszurotten ist. Oder ob sie ungeahnt in dunklen Ideenwelten so mancher braver Bürger überdauert.“

* Diese Zahlen sind nicht unbedingt ein Maßstab für die tatsächliche Anzahl von Rettern in jedem Land, sondern reflektieren die Fälle, von denen Yad Vashem in Kenntnis gesetzt wurde. Polen führt die weltweite Liste aus 51 Ländern an; die Niederlande stehen an 2. Stelle mit 5.910; in Österreich gib es 113 Ausgezeichnete.
** Von 1990 bis 1995 war er polnischer Botschafter in Wien, ernannt von Präsident Lech Wałęsa. 1995 übernahm er in der Regierung von Józef Oleksy das Amt des Außenministers, trat jedoch zurück, als Aleksander Kwaśniewski zum Präsidenten gewählt wurde. Von Juni 2000 bis September 2001 war er erneut Außenminister Polens, diesmal in der Regierung von Jerzy Buzek.

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