Auf jüdischer Spurensuche in der Normandie

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Ein Lokalaugenschein zwischen mondänem Seebad, Soldatengräbern und sehr unterschiedlichen französischen Gemeinden.

Zwischen den zahlreichen älteren Fachwerkhäusern sticht die bescheidene hell beige Fassade mit den geschichteten typischen Jerusalem-Steinen hervor. Sie markiert die kleine Synagoge in der Rue Castor 16 im Seebad von Deauville an der Küste der Normandie. „Diese Steine haben wir extra aus Israel hierhergebracht“, strahlt Robert Monso­nego, Präsident der Association Israelite de Deauville. Die Gründung und den Bau von Beth Yossef hat er gemeinsam mit seinem Freund Denis Levy und anderen jüdischen Unternehmern aus Paris als Privatinitiative betrieben. Seit rund vier Jahren finden hier jeden Schabbat Gottesdienste statt. „Für Schawuot mussten wir einen zusätzlichen Festsaal anmieten, weil sich über 500 Personen angemeldet hatten“, erzählt Monsonego, der so wie viele seiner Freunde zwischen Paris und Deauville pendelt.

Etwa 50 Familien haben ihren ständigen Wohnsitz hier. Jene, die ihre Ferienwohnungen nur am Wochenende oder für Kurzurlaube nutzen, bringen die koscheren Produkte aus dem knapp 200 Kilometer entfernten Paris mit. Ein glatt-koscheres Restaurant wird hier nur von Chabad angeboten, aber die meisten Supermärkte wie Carrefour oder Intermarché bieten in ihren Filialen gut sortierte Koscherwaren an. Wenn man es weniger streng nimmt, kann man einige „Koscher-style“-Lokale finden. „Aber die Jugend wird zusehends frömmer“, konstatiert der Präsident.

Infolge der Terroranschläge in Paris, insbesondere jenes am Freitag, dem 9. Januar 2015, als der jüdische Supermarkt angriffen wurde, flohen viele gleich am Wochenende nach Deauville. Auch wenn sich die Stimmung insgesamt etwas beruhigt hat, sieht Robert Monso­nego keinen Grund zur Entwarnung: „Wir müssen wachsam bleiben, was den steigenden Antisemitismus betrifft“, denn es sei sehr begrenzt, was Politiker dagegen tun könnten: „Auch Emmanuel Macron kann keine Wunder vollbringen.“

Deauvilles Ruf als mondäner Badeort geht mit der Gründung des berühmten Casinos im Jahre 1864 einher. Nach einer fast vollständigen Zerstörung wurde die Ruine 1912 durch einen Neubau ersetzt, der an das Opernhaus des Schlosses von Versailles aus dem 18. Jahrhundert erinnert. Im gleichen Jahr wurde auch das luxuriöseste Hotel, „Le Normandy“, eröffnet, in dem sich die Reichen und Schönen bis heute tummeln. Coco Chanel eröffnete ihren ersten Shop hier, und der algerisch-jüdische Regisseur Claude Lelouch drehte am breiten Sandstrand jenen Film, für den er 1967 den Oscar für das beste Originaldrehbuch erhielt: Ein Mann und eine Frau. Das Filmfestival von Deauville wurde 1975 gegründet, es widmet sich ausschließlich dem amerikanischen Independent Film. Trotzdem finden sich auf den Gästelisten die großen Namen Hollywoods: Lauren Bacall, Tom Hanks, Michael Douglas, Sharon Stone, Johnny Depp, Brad Pitt, Matt Damon, Al Pacino, Julia Roberts und Steven Spielberg. Der kleine Badeort verfügt über einen großen Yachthafen und eine berühmte Pferderennbahn und war ein beliebtes Motiv der französischen Impressionisten.

„Hier bevölkern auch die religiösen Juden mit Kippoth die eleganten Strandpromenaden. Sie fühlen sich dabei sicherer als in Paris“, lacht der Präsident der Gemeinde. Deauville ist für die Pariser Juden das, was für die Wiener Juden einmal der Semmering gewesen war, nur noch exklusiver und am Meer gelegen.

Robert Monsonego, Präsident der Association Israelite de Deauville. Den Bau von Beth Yossef hat er gemeinsam mit Freunden als Privatinitiative betrieben.

 

„Sie kämpften gemeinsam und sind nebeneinander begraben.“ Doch die Normandie ist nicht nur ein Synonym für Urlaub am Meer, den weltberühmten Apfelschnaps Calvados oder die Schönheit der Künste. Die lang gestreckten Küsten waren vor 73 Jahren brutal-blutige Schauplätze des Zweiten Weltkrieges. Um Europa von der Hitler-Tyrannei zu befreien, landen am 6. Juni 1944 mehr als 156.000 Soldaten der Alliierten in der Normandie. Die meisten von ihnen sind US-Amerikaner, Briten, Kanadier, Polen und Franzosen. Die Deutschen rechnen weiter nördlich bei Calais mit der Landung, dort ist der Großteil ihrer Divisionen stationiert. Dennoch leisten sie erbittert Gegenwehr.

58.000 US-Soldaten landen auf den Stränden mit den Codenamen Utah und Omaha, 54.000 Briten auf den Stränden Gold und Sword und 21.000 Kanadier auf dem Strand Juno. 23.000 Soldaten springen mit Fallschirmen über der Region ab. Sechs Tage nach dem 6. Juni schaffen es die Alliierten, die Brückenköpfe der Landung zu einer Front von insgesamt 100 Kilometern Länge zu verbinden. Bis Ende Juli 1944 werden es 1,5 Millionen alliierte Soldaten sein, die in der Normandie landen und gegen eine halbe Million deutsche Soldaten kämpfen. Auf 27 Kriegsfriedhöfen sind die Überreste von mehr als 110.000 Toten auf beiden Seiten begraben, darunter knapp 10.000 Amerikaner, 17.800 Briten, 5.000 Kanadier und 650 Polen sowie 77.900 Deutsche.

„Hier bevölkern auch die religiösen Juden mit Kippoth die eleganten Strandpromenaden. Sie fühlen sich dabei sicherer als in Paris.“ 

Operation Overlord. Die alliierten Streitkräfte landeten auf Stränden mit den Codenamen Omaha, Utah, Gold und Sword.

An diesem sonnig-heißen Frühlingstag im Mai 2017 glänzt der Sand golden und unschuldig, das Wasser trägt seinen schönsten königsblauen Mantel. Die sanften Farben, die Weite strahlen eine fast unerträgliche Ruhe aus. Das Blut der Opfer ist längst versandet und verschwommen. Warum mussten die jungen Männer aus Philadelphia, Vancouver oder Leeds ihr Leben hier lassen? Denkt man an die antiamerikanischen Ressentiments im Europa von heute, überkommt einen das Schaudern. Auf riesigen Grasfeldern stehen viele hundert weiße Marmorkreuze, alle in gleicher Höhe und schlichter Form. Und dazwischen immer wieder einzelne Davidsterne; kalt-weiß im gleißenden Sonnenlicht: Ginsburg David, 22, aus New Jersey; Snyder Philip, 24, aus Pennsylvania; Lurie Harry, 24, aus Illinois. Sie waren bei der Infanterie, beim Bombengeschwader oder unter den Pionieren. Rund 4.000 jüdische Soldaten landeten am 6. Juni an diesen Stränden. Allein in Colleville-sur-Mer zählt man 149 „Stars of David“. Vom Friedhof aus blickt man über Omaha Beach, jenen Küstenabschnitt in der Normandie, auf dem bei der Operation Overlord die meisten Soldaten ihr Leben ließen.

 

Die jüdische Mischung aus Aschkenasim und Sefardim. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten nicht mehr als 50.000 Juden in Frankreich. Am Ende des Jahrhunderts war es das Land mit der größten jüdischen Gemeinde Europas und der drittgrößten der Welt nach Israel und den USA. Seit einigen Jahrzehnten repräsentieren sefardische Juden die Mehrheit. Zwischen 1942 und 1944 wurden 79.500 der 330.000 in Frankreich lebenden Juden deportiert – es überlebten nur 2.500. Zwei Drittel der Opfer waren Juden, die hier aus ganz Europa in Frankreich Zuflucht gesucht hatten.

Mit dem Zustrom der Juden aus Tunesien, Marokko und vor allem Algerien hat sich die französische jüdische Gemeinde stark verändert, vor allem weil die bis dahin mehrheitlichen Aschkenasim an Einfluss verloren. „Diese nordafrikanischen Juden brachten in den frühen 1960er-Jahren eine Art „Volksreligion“ mit, die sie jede Woche, ja sogar jeden Tag praktizierten. Sie haben das französische Judentum wiedererstehen lassen“, begeistert sich Rabbiner Daniel Fahri, Vorsitzender des Mouvement juif libéral, bevor er relativierend anmerkt: „Sie hatten ihre Frömmigkeit, ihre Riten, brachten aber an jüdischer Kultur nicht sehr viel mit.“ Nelly Hansson, Leiterin der Fondation du judaisme français, warnt vor einer ahistorischen Sicht: „Die Kinder und Enkel dieser sehr frommen Sefardim werden sich genauso verändern, wie sich einst die Nachkommen der Aschkenasim verändert haben. Sie werden sich auch ,französisieren‘.“

Späte Citoyens. Die Geschichte der französischen Juden reicht an die 2.000 Jahre zurück. Im Frühmittelalter war Frankreich noch das Zentrum jüdischer Lehre in Europa, doch die Verfolgung stieg immens an, als sich im Laufe des Mittelalters die religiöse Intoleranz verstärkte. Nachdem die Juden Ende des Mittelalters von den französischen Königen vertrieben worden waren, gab es jahrhundertelang keine offiziell geduldeten jüdischen Gemeinden mehr. Jüdisches Leben reduzierte sich auf die unter päpstlicher Verwaltung stehenden Gebiete um Avignon und auf die Gegend von Bordeaux, wo sich aus Spanien und Portugal geflüchtete sefardische Familien niedergelassen hatten. Das änderte sich erst mit der Eroberung des Elsass und Lothringens: Mit diesen Gebieten erhielt Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert den Kern seiner jüdischen Bevölkerung. Doch blieb sie – auch noch im 19. Jahrhundert – verhältnismäßig klein.

Aber Frankreich war auch das erste Land des alten Kontinents, das die Juden aktiv in ihren Bestrebungen nach Emanzipation unterstützte: Ab der Französischen Revolution wurden sie nicht mehr als gesondertes Volk, sondern als religiöse Minderheit angesehen – als gleichberechtigte Citoyens. Erst dann durften die Synagogen als sakrale Gebäude öffentlich sichtbar sein. Doch trotz der nun gesetzlichen Gleichberechtigung blieben die Vorurteile und Ängste der Franzosen größtenteils bestehen, was besonders die Dreyfus-Affäre im späten 19. Jahrhundert zu Tage brachte.

„ANTISEMITISMUS SPÜRT MAN EHER IN DEN GROSSEN STÄDTEN WIE PARIS, TOULOUSE ODER MARSEILLE..“

„Auch im 20. Jahrhundert blieb Frankreich das Land, in das die Juden höchste Hoffnungen setzten und von dem sie manchmal am tiefsten enttäuscht wurden“, analysiert der deutsche Historiker Michael Brenner in einem NZZ-Essay und zeigt die Ambivalenz der französisch-jüdischen Geschichte auf: „War ihr Frankreich das Frankreich der Kollaboration oder das der Résistance? Das Frankreich, das als Kolonialmacht in Nordafrika wenig Ruhm erntete, oder das Frankreich, das den algerischen und tunesischen Juden ein Asyl bot? Das Frankreich, das Israel in den fünfziger Jahren mit Waffen belieferte und dessen atomare Aufrüstung ermöglichte, oder das Frankreich, das 1967 die Unterstützung für den ehemaligen Verbündeten im Nahen Osten zurückzog?“

Rouen und Metz: fest in Händen von Chabad. An der Universität von Rouen, der Hauptstadt der Normandie, studieren rund 25.000 junge Menschen und etwa 25 davon sitzen wöchentlich beim Schabbat-Abendessen bei Rabbi Shmuel Lubecki und seiner großen Familie. „Es gibt viel mehr jüdische Studenten in der Stadt, und wir freuen uns über jeden, der uns besucht“, lacht der gebürtige Franzose, der zehn Jahre in Detroit lebte und auch dort die Jeschiwah absolvierte. „Meine Frau wollte unbedingt zurück nach Frankreich, und so habe ich das Chabad-Haus hier übernommen.“ Lubecki arbeitet mit der offiziellen jüdischen Kehilla, dem „Consistoire“ zusammen, um die 250 Familien betreuen zu können. „Zirka ein Drittel dieser Familien ist religiös-traditionell, daher haben wir jeden Schabbat Minjan für 30 bis 40 Synagogenbesucher.“

Die Synagoge in
Rouen wurde 1950
neu eingeweiht – an derselben Stelle, an der im Zweiten Weltkrieg ein Bethaus zerstört wurde.

Die Synagoge in Rouen wurde 1950 wieder eingeweiht, genau an der Stelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bethauses. „Leider haben wir keine jüdische Schule, daher kutschiere ich meine sieben Kinder, zwischen fünf und zwölf Jahren, in das knapp 140 km entfernte Paris. Dort hole ich sie dann jeden Freitag wieder ab.“ Auf Alija nach Israel gingen nur wenige Familien, „denn Antisemitismus spürt man eher in den großen Städten wie Paris, Toulouse oder Marseille.“ Ein anderes Problem sind Ereignisse, die politisch mit Israel verknüpft werden: „Dann erleben wir schon, dass manche Muslime aggressiv werden. Auch ich bin angegriffen und ins Gesicht geschlagen worden“, erzählt der Chabad-Abgesandte. Er habe die Polizei eingeschaltet, diese hätte aber den Angreifer, weil er erst 15 Jahre alt war, schnell wieder freigelassen.

 

Gerne führt Rabbi Lubecki seine Gäste zum Maison Sublime, der ältesten Jeschiwa der Welt: Hier soll bereits um 1100 auch Samuel ben Meir, genannt Raschbam, ein Enkel von Raschi und selbst berühmter jüdischer Kommentator von Tanach und Talmud, im 12. Jahrhundert studiert haben. Nur jeden Dienstag um 15 Uhr gibt es hier Führungen, denn das älteste jüdische Bauwerk Frankreichs wurde im Justizpalast von Rouen (erbaut 1509) entdeckt.

Im lothringischen Metz, heute Hauptstadt des französischen Département Moselle, gehörte die Gemeinde im 17. und 18. Jahrhundert zu den wenigen herausragenden jüdischen Siedlungsorten. Auch hier gab es eine Jeschiwa, die Studenten aus ganz Europa anzog, und zahlreiche hoch angesehene jüdische Gelehrte. Zu den berühmten Rabbinern zählten neben Jonathan Eibeschitz (um 1740) auch Moise Cohen Narol, Yonas Teomin-Frankel oder Gavriel Eskeles. 1827 wurde die Jeschiwa Metz Sitz des französischen Rabbinerseminars und blieb es für drei Jahrzehnte, ehe es auf Anordnung Napoleon III. nach Paris verlegt wurde.

Obwohl die Anwesenheit von Juden bereits in der Römerzeit als wahrscheinlich anzunehmen ist – sie kamen im Gefolge römischer Soldaten hierher – stammen die ersten urkundlichen Hinweise auf die Existenz von Juden in Metz aus dem ausgehenden 9. Jahrhundert. Um 960 wurde in Metz der berühmte Talmudgelehrte Gershom ben Jehuda geboren. Sein Ansehen in der jüdischen Welt brachte ihm den Titel „Leuchte des Exils“ ein. Seine Lehren, einschließlich des gesetzlichen Verbots der Polygamie innerhalb des aschkenasischen Judentums, haben auch heute noch ihre Gültigkeit. Die Anlage eines Friedhofs und die Einrichtung einer Synagoge fanden zeitgleich um 1620 statt. Im Jahre 1657 besuchte Louis XIV., begleitet von seinem Bruder, als erster französischer König eine Synagoge, und zwar die in Metz.

In der Avenue Rabbin Elie Bloch befindet sich heute die Synagoge, die 1850 eingeweiht wurde. In dieser ehemaligen europäischen Hochburg der jüdischen Lehre betreut Chabad-Rabbiner Yaacov Atlan seit sieben Jahren die rund 600 Familien, etwa 1.500 Seelen. „Etliche davon sind über 60 Jahre alt, aber wir haben auch Jugendliche, denen wir diverse Programme anbieten können. Viele gingen vor den Anschlägen in Paris ziemlich furchtlos mit der Kippa durch die Stadt. Seit den Angriffen herrscht doch etwas mehr Angst.“


Bilder: © Reinhard Engel

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