Die Soziologin Éva Judit Kovács forscht in Wien und Budapest an renommierten Instituten. Über aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen in Ungarn sprach sie mit Marta S. Halpert.
wina: Als Soziologin beschäftigen Sie sich mit dem sozialen Verhalten und dem Zusammenleben der Menschen. Sie forschen seit 2006 auch an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest. Sowohl beruflich als auch privat leben Sie in Wien und in Budapest. Wenn Sie auf die letzte Dekade zurückblicken, welche Veränderungen stellen Sie in der ungarischen Gesellschaft fest?
Éva Kovács: Im Großen und Ganzen gesehen ist die zunehmende Armut und der Anstieg der sozialen Ungleichheit die tragischste Veränderung in den letzten zehn Jahren. Das betrifft besonders die Kinder: Rund zehn Prozent leiden an Hunger, etwa die Hälfte weist Mangelerscheinungen auf. Dazu kommt, dass sich die Toleranz in der Gesellschaft vermindert hat und der Antiziganismus, die Xenophobie und der Antisemitismus sich verstärkt haben.
wina: Zeichnet sich eine Entwicklung in Richtung Zivilgesellschaft ab?
EK: Diese ist in Ungarn auch aus historischer Sicht sehr schwach ausgebildet. Weder in der Zwischenkriegszeit noch im Staatssozialismus existierte eine starke Zivilgesellschaft, die eine Basis für Selbstorganisierung oder Solidarität geboten hätte. Das sieht man auch am Beispiel der Judenverfolgungen, als es dagegen in der Bevölkerung kaum Widerstand gab. In den letzten zwei Jahrzehnten der Kádár-Ära wurde die ungarische Gesellschaft – auch durch die politische Unterstützung der Schattenwirtschaft – völlig individualisiert. Die Struktur der gesellschaftlichen Ordnung ist nach der politischen Wende, insbesondere nach 2000, noch löchriger geworden. Dennoch gibt es auch derzeit viele zivilgesellschaftliche Initiativen, die aber ihre Kräfte nur selten bündeln können. Ebenso erstaunlich ist die Passivität der diversen Kirchengemeinden bei der Revitalisierung der Gesellschaft.
wina: Warum hat man den Eindruck, dass die ungarische Bevölkerung apathisch ist, sich gegen gewisse Entwicklung nicht auflehnt?
EK: Ich würde es nicht Apathie nennen: Der World Value Survey bescheinigt der ungarischen Gesellschaft eher ein gewisses Misstrauen, einen Mangel an sozialen Normen sowie an Gespür für Ungerechtigkeit und Paternalismus. Die Forschungen zeigen eine stark säkularisierte und introvertierte Society. Auf der kulturellen Werteskala liegt Ungarn näher bei Bulgarien, Moldawien, der Ukraine oder Russland als bei Slowenien oder Westeuropa. Ich nenne es lieber nicht Apathie, sondern ein tief verwurzeltes Misstrauen. Deshalb betone ich, dass diese Ambivalenz und dieses Verhalten auch in völlig anderen politischen Systemen in der ungarischen Gesellschaft präsent waren – und das mindestens über ein Jahrhundert hinweg. Das beweist auch die anhaltend hohe Zahl der Suizide.