Der Kampf um die Ehre des Vaters

Ilse Nusbaum, in Wiener Neustadt geboren, feiert heuer ihren 90. Geburtstag in Los Angeles. Die studierte Pädagogin und Autorin erzählte dem WINA-Magazin, wie sie zur Urheberin eines Mahnmals an der WU Wien wurde.

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Ilse Nusbaum setzte sich viele Jahre lang um die postume Anerkennung der durch das NS-Regime abgelehnten Dissertation ihres Vaters ein.

Ausdauer und Kampfgeist sind ihr auch im 90. Lebensjahr nicht abzusprechen: Ilse Nusbaum antwortet auf jedes Mail aus Wien in Minutenschnelle, trotz Zeitunterschied zu ihrem Wohnort in Los Angeles – und das auch ausführlich. Obwohl sie erst viereinhalb Jahre alt war, als ihr Vater Karl Löwy sie gemeinsam mit ihrer schwangeren Mutter sicher aus Österreich nach Amerika brachte, ließ sie die Vergangenheit nie los.

Dieses Vergangene hatte eigentlich in Eisenstadt in der Ruster Straße 31 begonnen: „Meine Eltern waren am 2. September 1933 bei meinem mütterlichen Großvater, dem beliebten Gemeindearzt Dr. Jakob Braun, in Markt Piesting zu Besuch. Da meine Mutter frühzeitige Wehen bekam, wurde sie von dort ins Spital nach Wiener Neustadt gebracht – und so kam ich zu diesem Geburtsort“, erzählt Ilse Nusbaum.

Diese geburtstechnischen Details wurden der Eisenstädterin erst viel später erzählt. Was sie aber mit Wien von Jugend an verbunden und belastet hat – auch all die Jahre in den USA –, war die bittere Erfahrung und Enttäuschung ihres Vaters, die ihn bis zu seinem plötzlichen Tod im Herbst 1970 begleitete. Karl Löwy wurde 1902 in Oggau am Neusiedler See geboren, seine Mutter war Antiquitätenhändlerin, sein Vater arbeitete in Eisenstadt in der bekannten Weinhandlung Wolf.

 

VIRTUELLES GEDENKBUCH: Die Biografien der Opfer sind in einem virtuellen Gedenkbuch abrufbar. Sie gründen auf Recherchen in Archiven und in Opferdatenbanken, die von angesehenen Institutionen, wie dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Wien) oder Yad Vashem (Jerusalem) im Internet bereitgestellt werden. In wenigen Einzelfällen war es möglich, Interviews mit betroffenen Zeitzeugen zu führen. gedenkbuch.wu.ac.at/

 

Bereits 1923 legte Karl Löwy seine Diplomprüfung an der Hochschule für Welthandel ab und unterrichtete bald darauf an der Kaufmännischen Wirtschaftsschule in Eisenstadt. 1931 inskribierte er erneut an der „Welthandel“ mit dem Ziel, in Handelswissenschaften zu promovieren. Seine Dissertation Der Weinbau in Österreich – Wirtschaftsgeographische Untersuchungen reichte er am 20. Januar 1938 ein. Die hierfür erforderlichen Gebühren hatte er bereits am 12. Januar entrichtet. Obwohl in den Gutachten, die zwei Professoren der Hochschule über die Doktorarbeit verfassten, die Zulassung zum Zweiten Rigorosum empfohlen wurde, verwehrte die Universität Löwy die Teilnahme an der Prüfung mit dem ausdrücklichen Hinweis auf seine Zugehörigkeit zum Judentum: „da mosaisch zu den Rigorosen nicht zugelassen“.

„Löwy gehörte somit zu den wenigen jüdischen Doktoranden, denen durch die Hochschule für Welthandel der Abschluss des Doktoratsstudiums aus ,rassischen‘ Gründen verwehrt wurde“, schreibt Johannes Koll* 2014 im Gedenkbuch der WU. „Außerdem verlor Löwy seine Anstellung an der Eisenstädter Wirtschaftsschule – ,wegen notwendig gewordener Personaländerungen‘, wie die antisemitischen Säuberungen im Arbeitszeugnis vom 15. März 1938 verschleiert bezeichnet wurden.“

„Ich kenne die Weinberge von Baden nur von Bildern. Aber hier waren zwei Onkel von mir Winzer, die ihren Wein in Wien verkauft haben. Es war also kein Wunder, dass mein Vater über die Weinwirtschaft geschrieben hat“, erzählt die Tochter. Nach der brutalen Verweigerung des Studienabschlusses erkannte Karl Löwy sehr schnell, wie gefährlich die Situation werden würde. „Jedenfalls begannen meine Eltern bereits im Februar 1938 mit den Vorbereitungen, um Österreich zu verlassen. Sie verkauften unser Haus in Eisenstadt, das sie erst 1936 erstanden hatten, und suchten um amerikanische Visa an.“

Ilse Nusbaum: Denial. Lulu.com, 468 S., € 16,10

Am 12. April 1938 erhielt Löwy die ersehnten Ausreisepapiere für seine Frau Martha, die kurz vor der Geburt von Ilses Bruder Paul stand, und der damals vierjährigen Tochter. „Der Weg in die Emigration führte die Familie Löwy zunächst quer durch das Deutsche Reich nach Hamburg. Von hier aus gelangte man so gut wie mittellos auf der ,S.S. Hamburg‘ nach New York“, recherchierte Johannes Koll. „Da man vorher alles von Wert hatte veräußern müssen, verfügte man nur noch über Gelder für Lebensmittel und die erzwungene Ausreise. Pro Person war der Familie lediglich zugestanden worden, acht Dollar für die Einreisesteuer mitzunehmen“, so Professor Koll. Ilse Nusbaum, die ihren Eltern sehr dankbar ist, dass sie sie trotz beschränkter Mittel ins Radcliffe College in Harvard schickten, ist eine zierliche Frau, die als Mutter von drei Töchtern sehr früh verwitwete. „Wir hatten großes Glück, dass wir überlebten, denn das österreichische Kontingent für Visa in die USA war auf etwa 700 beschränkt.“

Der Familienname wurde von Löwy auf Lowy anglisiert, und die Eltern sprachen nie mehr Deutsch, nicht einmal untereinander. Karl fand zunächst Arbeit in einem Kaufhaus in Detroit, wo er in einer Lagerhalle Kisten entlud. An der Wayne State University in Detroit erwarb der Familienvater einen Mastertitel und arbeitete danach als Wirtschaftsprüfer. „Aber die Frage, was aus seiner Dissertation geworden ist, ließ ihn sein ganzes Leben nicht los. 1970 schließlich wollte er der Sache nachgehen, buchte für sich und meine Mutter den Flug und ein Hotel in Wien“, erinnert sich Tochter Ilse. „Kurz vor der Abreise erlitt er einen Herzinfarkt und starb. Erst nach dem Tod meiner Mutter im Jahr 2008 las ich alle Unterlagen aus Wien, die sie aufbewahrt hatte: Da wurde mir bewusst, dass ich diesem Trauma meines Vaters, das auch unser Familienleben nachhaltig prägte, unbedingt nachgehen muss.“

Suche nach der Dissertation des Vaters. Die erfahrene Autorin und Pädagogin begann zu recherchieren und fand tatsächlich den Titel der Dissertation, Weinbau in Österreich, der in einem Artikel über Wein zitiert wurde. „Ich kontaktierte sofort das Archiv der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und bin zum Glück an Regina Zodl geraten“, freut sie sich noch heute. „Sie versprach mir, nach der Dissertation zu suchen, und ein paar Wochen später lag eine Kopie in meinem Postkasten. Ich war überwältigt.“

Das Original bekam Nusbaum erst 2011 zu Gesicht, als sie mit ihrer Tochter Anne vom Jewish Welcome Service nach Wien eingeladen wurde. „Wir hatten ein ganz tolles Programm, aber ich bestand doch darauf, einen Nachmittag auf die WU zu gehen. Da lernte ich im Archiv Regina Zodl persönlich kennen, seither nenne ich sie immer ‚meine Heldin‘.“ Auf der Rückseite des Dokuments sah Ilse zum ersten Mal einen Hakenkreuz-Stempel und den Satz: „Zu den Rigorosen nicht zugelassen, da mosaischen Glaubens.“ „Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, was für ein Gruseln über mich kam. Gleichzeitig war das natürlich die smoking gun, also der Beweis, dass mein Vater einzig und allein aufgrund der Tatsache, dass er Jude war, seinen Doktortitel nicht bekommen hatte.“

 

Der Familienname wurde von Löwy auf
Lowy anglisiert, und die Eltern sprachen
nie mehr Deutsch, nicht einmal untereinander.

 

Mit diesem Besuch hat die damals 78-jährige Amerikanerin einen Prozess in Gang gesetzt, der nicht nur ein virtuelles Gedenkbuch, sondern auch ein Forschungsprojekt sowie in dessen Folge ein Mahnmal zeitigte. Nur der einzige Wunsch der Tochter wurde nicht erfüllt: „Ich habe vorgeschlagen, dass man meinem Vater seine Doktorwürde postum verleihen könnte. Aber das war auf Grund der österreichischen Gesetze nicht möglich. Ich war ziemlich wütend: Österreichische Gesetze? Schon einmal haben ,Österreichische Gesetze‘ verhindert, dass mein Vater sein Recht bekam. Und jetzt wieder?“, erregt sich Ilse Nusbaum noch heute, fügt aber gleich darauf hinzu: „Aber dann begannen sie mit einem ganz wunderbaren Projekt, und es ging alles sehr schnell.“

Die persönliche Begegnung mit der Tochter von Diplomkaufmann Karl Löwy verfehlte die Wirkung auch auf die Archivarin Zodl nicht: „Wir haben zu recherchieren begonnen und dabei entdeckt, dass zu dieser Zeit insgesamt 15 Dissertationen beanstandet worden sind. Dreizehn davon wurden später aber anerkannt, weil die Personen nach den ‚Nürnberger Rassengesetzen‘ ‚nur Halbjuden‘ waren“, erzählt Zodl. Die zwei abgelehnten Doktoranden waren eben Karl Löwy und Arthur Luka**. Letzterer wurde 1941 nach Minsk deportiert und dort erschossen.***

„Es wurde uns klar, dass wir etwas tun mussten. Ich bin sehr froh, dass wir so die Möglichkeit bekommen haben, die Geschichte der jüdischen Kolleginnen und Kollegen aufzuarbeiten, die 1938 an der alten ,Hochschule für Welthandel‘ als Studenten oder Lehrkräfte tätig waren“, freut sich Zodl. 2012 startete die WU ein Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte der ehemaligen Hochschule für Welthandel zur Zeit des „Anschlusses“ und der NS-Herrschaft beschäftigte. Jene Studierenden, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens oder ihrer Opposition zum NS-Regime daran gehindert wurden, ihren Abschluss zu machen, sollten identifiziert werden.

 

„Ich bin sehr froh, dass wir so die Möglichkeit bekommen haben,
die Geschichte
der jüdischen Kolleginnen und Kollegen aufzuarbeiten, die 1938 an der alten ,Hochschule für Welthandel‘ als Studenten oder Lehrkräfte tätig waren.“

Regina Zodl

 

Zunächst arbeitete man an einem digitalen Gedenkbuch. Durch die Übersiedlung auf den neuen Campus im 2. Bezirk entstand dann die Idee eines Mahnmals. 28 Absolventen und Studentinnen der Akademie der bildenden Künste beteiligten sich an dieser Ausschreibung. Die Arbeit des Künstlers Alexander Felch wurde an zentraler Stelle am neuen Campus errichtet und am 8. Mai 2014 die Skulptur präsentiert: Insgesamt 120 Namen der Opfer sind zu einer Kugel aus Niro verbunden. Weitere Namen können noch hinzugefügt werden, bewusst sind auch Leerstellen eingebaut. „Ich kam mit meiner Tochter Anne zur Einweihung, das war eine sehr emotionale Geschichte“, erinnert sich Nusbaum. „Es wurde mir auch für die Anregung zur Durchführung des Gedenkprojekts gedankt.“

Auf einen Film über Ilse Nusbaum dürfen wir noch hoffen, denn der österreichische Filmregisseur und Drehbuchautor Stephanus Domanig hat seine Recherchen dazu bereits 2015 begonnen. „Ich habe Ilse damals in Los Angeles kennen und schätzen gelernt, als ich den Film Das erste Jahrhundert des Walter Arlen über den Wiener Musiker und Komponisten Arlen (Uraufführung 2018 bei der Viennale) dort drehte.“ Für sich selbst und ihre große Familie in den USA – Ilses drei Töchter sind auch schon teilweise Großmütter – hat sie in der englischen Autobiografie Denial (Verweigerung) die traurig-beklemmende Geschichte ihres Vaters dokumentiert, aber noch immer nicht verarbeitet.


* Am 26. Juli 2017 überreichte PD Dr. Johannes Koll in Los Angeles das erste Exemplar des von ihm herausgegebenen Sammelbandes „Säuberungen“ an österreichischen Hochschulen 1934–1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen (Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2017) an Ilse Nusbaum, die Tochter von Karl Löwy. Mit ihrer Anfrage an die Wirtschaftsuniversität Wien nach dem Verbleib der Doktorarbeit ihres Vaters hatte sie den Anstoß zu jenem Gedenkprojekt gegeben, aus dem auch das Gedenkbuch hervorgegangen ist.

** Als sich Arthur Luka (geb. 1882 in Lemberg) zum Wintersemester 1936–1937 an der Hochschule für Welthandel für ein Doktoratsstudium einschrieb, hatte er bereits drei Doktortitel erworben. An der Universität Wien hatte er an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät (1904) sowie an der Philosophischen Fakultät (1914) promoviert, ebenso an der Philipps-Universität Marburg (Deutschland) zum Doktor der Medizin (1924–1925).

*** Zur Erinnerung an sein Schicksal wurde am 6. Juni 2016 ein Schild mit seinem Namen in Blagowschtschina aufgehängt – jenem Wäldchen, in dem die Deportierten nahe Maly Trostinec erschossen wurden. Eine Initiative von Waltraud Barton und IM-MER, Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern.

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