„Die Gemeinde ist zusammengerückt“

Seit rund fünf Jahren gibt es in Wien die JRCV, die Jewish Russian Speaking Community Vienna. Der junge Rabbiner dieser Gemeinde ist ein Chabad Schaliach, sein Name ist Moshe Kolomoitsev. Er stammt aus einer Stadt, die vielen erst seit Ausbruch des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine ein Begriff ist: aus Dnipro. In der JRCV ist nun wie in der gesamten IKG seit Ende Februar alles einem untergeordnet: der Hilfe für aus der Ukraine geflüchtete Juden und Jüdinnen. Maxim Slutski, selbst in Kiew geboren und Mitbegründer der JRCV, wurde von IKG-Präsident Oskar Deutsch gebeten, die Ukraine-Hilfe der gesamten jüdischen Gemeinde zu koordinieren. WINA traf Kolomoitsev und Slutski in den JRCV-Räumlichkeiten in der Wollzeile.

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Maxim Slutski. Seit Ende Februar ist der Immobilienspezialist ausschließlich mit Flüchtlingshilfe beschäftigt. ©Daniel Shaked

An einem langen Tisch sitzen ein paar Frauen und unterhalten sich, das Smartphone immer in Griffweite. Sobald eine Nachricht eintrifft, gleitet der Blick sofort zum Telefon. Das Handy kann jederzeit eine Frohbotschaft oder etwas Niederschmetterndes verkünden. Die Bima ist zur Seite geschoben, der moderne Thoraschrein verschlossen, davor ein paar Sesselreihen. Um die Ecke stapeln sich weitere Stühle. An einer Wand entsteht gerade eine beeindruckende Bücherwand. Hier sei eine jüdisch-russische Bibliothek im Aufbau, gesponsert von einem Philanthropen, erzählt Slutski. Wenn sie einmal fertiggestellt sein wird, wird sie die Namen von von den Nationalsozialisten ermordeten Juden tragen. An der Adresse gab es in der NS-Zeit ein Sammellager. „Alles, was hier gelernt wird, jedes Gebet wird für diese Menschen bestimmt sein“, so Slutski.

Der wandelbare Mehrzweckraum ist einmal Synagoge, dann Bibliothek, aber auch Veranstaltungsraum. Hier wird gemeinsam gebetet, gelernt, gegessen und gefeiert, hier gibt es Programm für Kinder, für Studierende, Schiurim für Männer und Frauen, und einmal gab es auch schon eine Chuppa. Nun aber ist hier eine Art Dependance der IKG entstanden – eine Kommandozentrale in der Seitenstettengasse, eine zweite in der Wollzeile. In Letzterer gibt es ein ständiges Kommen und Gehen. Die Telefone von Slutski und Rabbiner Kolomoitsev klingeln in einer Tour, dann stöpseln sie ihre Earbuds in die Ohren und switchen ins Russische – beziehungsweise Ukrainische –, wobei beide erklären: Die Sprachen unterscheiden sich nicht massiv voneinander. Ein bisschen sei es so wie mit dem aschkenasischen und dem sephardischen Ritus in einem Gottesdienst.

Nicht nur die IKG-Einrichtungen – „Einfach alle helfen, vom Beit Halevi bis zur Machsike Hadass, vom VBJ bis zur georgischen Gemeinde.“
Maxim Slutski, Koordinator der Ukraine Hilfe in der IKG

Wobei dieser Ritusunterschied dann doch wieder eine Rolle spielt, denn diese Gemeinde wurde mit Starthilfe von Chabad-Rabbiner Jacob Biderman für jene Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet, die zwar wie viele andere in Wien auch Russisch sprechen, aber eben Aschkenasen sind und daher im Sephardischen Zentrum, der Heimat der Wiener bucharischen, aber auch georgischen Juden, nicht so ganz zu Hause sind. Am Ende geht es dann eben doch um den kleinen Unterschied. Einerseits.
Andererseits besuchten die Synagoge in der Wollzeile bisher vor allem Ukrainer und Russen, aber auch Weißrussen und eben Russisch Sprechende aus anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion. Das tun sie weiterhin, doch inzwischen begann dieser Krieg und brachte eine Zäsur, jedenfalls von außen. Von innen allerdings nicht, wie der Rabbiner betont: „Menschen aus Russland kommen hierher, sie unterstützen uns und fragen, wie sie helfen können, und sagen: Wir entschuldigen uns für das, was da jetzt passiert.“

Den 24. Februar 2022 werden Slutski und Rabbiner Kolomoitsev wohl ihr Leben lang nicht vergessen. Seit Wochen sei etwas in der Luft gelegen, und an diesem Tag sei er sehr früh, eigentlich noch mitten in der Nacht, aufgewacht, erzählt der Schaliach. „Um fünf Uhr habe ich meine Frau aufgeweckt, meine Schwiegermutter lebte ja in Dnipro.“ Diese habe dann schon ein Foto vom Brand beim Flughafen geschickt. „Das ist hart. Auch die Bilder im Fernsehen waren ein Schock. Man hat Familie dort, Freunde, Bekannte.“ In Dnipro hatte er vor seiner Übersiedlung nach Wien als Rabbiner vor allem mit Studierenden gearbeitet, „es kennen mich einfach viele Leute.“ Er begann, enge Freunde anzurufen, um Hilfe anzubieten, zehn bis 15 Menschen seien dies gewesen. Sie erzählten anderen von der Möglichkeit, nach Wien zu flüchten, und so hörte das Telefon an diesem Tag nicht mehr auf zu klingeln. Slutski, dessen Frau ebenfalls aus Dnipro stammt, erging es ähnlich. Die beiden lotsten Flüchtende nach Wien, organisierten erste Wohnungen, Mahlzeiten, kümmerten sich um einen Arzt, als ein Kind erkrankte.

„Für die Kinder ist es besonders schwer. Sie sind eines Tages aufgewacht und Bomben fielen. Damit zurechtzukommen, ist nicht leicht.“
Rabbiner Moshe Kolomoitsev

Beiden sei aber nach einigen Tagen auch klar gewesen: Sie stoßen an die Grenzen des Machbaren. „Ich kann für eine Handvoll Freunde eine Woche eine Airbnb-Wohnung bezahlen, aber mehr geht nicht“, erzählt der Rabbiner. Inzwischen sei auch die Ukraine-Hilfe der IKG angelaufen, und der IKG-Präsident habe die Kräfte bündeln wollen und bei Slutski angefragt, ob er die Koordination übernehmen wolle. „Ich habe gesagt, dass ich da zuerst meine Frau fragen muss.“ Sie hat offensichtlich ja gesagt, denn seit Ende Februar ist Slutski mit nichts anderem mehr als Flüchtlingshilfe beschäftigt. Das, womit er sein Leben verdient, Geschäfte – vor allem im Immobilienbereich, aber auch anderer Art – einzufädeln und über die Bühne zu bringen, hat er hintangestellt. Nun können alle Menschen, die nach Wien kommen wollen, eingeladen werden.

Neuankömmlinge. Anfang April, als WINA die beiden besuchte, waren bereits 750 Juden und Jüdinnen aus der Ukraine in Wien angekommen und vorerst geblieben. „In den ersten Wochen schickten wir Busse, die die Menschen von der Grenze abholten“, berichtet Slutski. Andere kamen mit ihren Autos. Alle wurden zunächst in Hotels untergebracht, nach und nach wurden für sie Wohnungen gesucht. Das Gros war bis Pessach in die vorläufigen eigenen vier Wände übersiedelt. ESRA half bei der Registrierung und stützte dort, wo psychologische Stütze nötig war – vor allem bei den Kindern.

Rabbiner Moshe Kolomoitsev. „Und dann werden wir wieder Leute abholen. Wir werden niemanden im Stich lassen, wir werden helfen.“ ©Daniel Shaked

„Für sie ist es besonders schwer“, sagt der Rabbiner. „Sie sind eines Tages aufgewacht und Bomben fielen. Damit zurechtzukommen, ist nicht leicht.“ Für die Kinder wurden am LauderChabad-Campus und an der Zwi-PerezChajes-Schule zudem Klassen eröffnet. Um alle Kinder unterrichten zu können, wurden inzwischen bereits Container aufgestellt, der Unterricht erfolgt im Team von ukrainischen Lehrern und Lehrerinnen, die ebenfalls geflüchtet sind, und ihren österreichischen Kollegen. Das JBBZ begann sich anzusehen, wer über welche Qualifikation verfügt.

Aber nicht nur die Einrichtungen der IKG packten an, berichtet Slutski. „Einfach alle helfen, vom Beit Halevi bis zur Machsike Hadass, vom VBJ bis zur georgischen Gemeinde. Es wurden Hotels zur Verfügung gestellt, es wurde gespendet, viele Freiwillige sind im Einsatz. Der Zusammenhalt in der Wiener jüdischen Gemeinde ist enorm. Die Gemeinde ist zusammengerückt“, streut er allen, die sich hier engagieren, Rosen. Allen – es seien einfach zu viele, um sie aufzuzählen, Einzelpersonen wie auch Organisationen. „Kol hakavod, was hier auf die Beine gestellt wird.“ Das betont auch der Rabbiner. „Bevor dieser Krieg begonnen hat, haben wir alle ein bisschen in Parallelwelten gelebt“, meint er. „Aber jetzt sind wir einander sehr nahe. Die Flüchtlingshilfe ist ein trauriger Anlass. Auf der anderen Seite ist es ein Wunder, was uns allen gemeinsam da gelungen ist.“ Slutski, dessen Mutter in Deutschland lebt und sich dort ebenfalls für Geflüchtete aus der Ukraine einsetzt, sagt, was die Wiener Gemeinde hier vorzeige, sei beispiellos in Europa. Keine andere jüdische Gemeinde unterstütze die Ankommenden so umfassend, wie dies in Wien passiere.

Rund 600 Mitglieder zählte die JRCV bisher – viele seien bisher keine Mitglieder der IKG gewesen. Auch Slutski selbst nicht, obwohl er hier vor vielen Jahren die Jugendabteilung der Kultusgemeinde begründete, dann aber eine andere berufliche Laufbahn einschlug und zwischenzeitlich mit seiner zweiten Frau und den gemeinsamen vier Kindern auch in London lebte. Nun sind er und seine Familie aber wieder in die IKG eingetreten, betont Slutski, und viele andere JRCV-Mitglieder würden das auch tun. „Was Oskar Deutsch hier an Hilfe ermöglicht hat, ist großartig. Wir sind ja auch aus der Ukraine. Das werden wir nie vergessen. Wenn wir hier nun die Gemeinde unterstützen können, dann machen wir das.“

Sollten einige der Neuankömmlinge nun beschließen, in Wien zu bleiben, dann könnte die JRVC massiv wachsen. Je länger der Krieg andauere, je mehr Menschen würden bleiben, ist Slutski überzeugt. Einige wollten ursprünglich nur ein, zwei Nächte bleiben und dann weiterreisen, erzählt der Rabbiner. Doch die Unterstützung hier habe sie bewogen zu bleiben.
Viele der Geflüchteten seien gut ausgebildet. Sobald sie hier beruflich Fuß fassen können, werden sie wohl nicht mehr in die Ukraine zurückgehen, vor allem dann nicht, wenn ihr Heimatort inzwischen zerbombt wurde.

Anfang April war der Zustrom ukrainischer Juden etwas abgeebbt, fünf bis zehn Anrufe erhalte man pro Tag, nicht alle würden sich schließlich entscheiden, nach Wien zu kommen, erzählt Rabbiner Kolomoitsev. Die Frage sei, ob Russland auch Dnipro so ins Visier nehme wie Mariupol oder Charkiw. In Dnipro gibt es eine große jüdische Gemeinde mit mehreren zehntausend Mitgliedern. Dann erwarteten Slutski und der Rabbiner erneut einen großen Zustrom nach Wien. „Und dann werden wir wieder Leute abholen. Wir werden niemanden im Stich lassen, wir werden helfen.“ Ob dieser Fall zu Erscheinen dieser Ausgabe bereits eingetreten sein wird, war zu Redaktionsschluss nicht absehbar, ebenso wenig, ob der Krieg inzwischen ein Ende gefunden hat.

Zur Normalität wird man in der Wollzeile dennoch nicht übergegangen sein, auch wenn der Rabbiner einräumt, dass dem Schock in den ersten Kriegstagen ein merkwürdiger Zustand der Gewöhnung gefolgt ist. „Man schaut die Nachrichten an, man sieht, was wieder zerstört wurde, es ist traurig, aber es ist so, man kann es nicht ändern. Das Einzige, was man tun kann, ist zu helfen.“

Am langen Tisch nebenan essen inzwischen zwei der Frauen einen Teller Suppe. Ein Handwerker kommt, um von Slutski Geld zu holen, er muss Küchenmöbel kaufen und dann zusammenbauen, einige der Wohnungen, die von Tmicha, dem Hilfsverein der IKG, für Geflüchtete angemietet wurden, sind nicht möbliert. Schon haben die beiden den nächsten Termin, das Interview ist zu Ende geführt, beide Herren wurden fotografiert. Pessach steht zu diesem Zeitpunkt vor der Tür, man will einen Seder für Neuankömmlinge organisieren. Eine Feier hat man auch schon zu Purim organisiert, erzählt der Rabbiner, und ja, manche hätten in Frage gestellt, ob es passend sei, angesichts des Krieges ein Fest zu begehen, aber andererseits habe es vor allem den Kindern kurze Momente der Unbeschwertheit beschert, ein kleines Stückchen Normalität. Beim Verlassen des Zentrums der JRCV fällt eine Frau mittleren Alters auf. Etwas verloren steht sie im Eingangsbereich, sie schaut zu Boden und weint. Manche Wunden werden noch lange brauchen, um zu heilen, so sie dies jemals tun.

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