Die offene Gesellschaft verteidigen

Antisemitismus sei wie feiner Staub, der kaum zu fassen sei und deshalb alles hartnäckig bedecke, sagt Marieluise Beck, ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete. Mit ihrem Ehemann Ralf Fücks gründete sie die Denkfabrik Zentrum Liberale Moderne in Berlin.

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Marieluise Beck und Ralf Fücks suchen gemeinsam Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. © Martin Lengemann

In einem Interview mit der Berliner Tageszeitung taz sagte Marieluise Beck: „Es gibt kein Fieberthermometer für Antisemitismus bestimmter Gruppen, Antisemitismus ist nicht in Zahlen messbar.“ Er sei wie feiner Staub, der fast nicht zu fassen ist und deshalb so hartnäckig bestehen bleibt. Die ehemalige deutsche Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck begründete 2017 gemeinsam mit ihrem Ehemann, Ralf Fücks, nach deren Ausscheiden aus der Tagespolitik die Nichtregierungsorganisation Zentrum Liberale Moderne (ZLM) mit Sitz in Berlin. In der Selbstbezeichnung sieht sich das Zentrum als „eine unabhängige Denkwerkstatt, ein Debattenforum und ein Projektbüro. Unser Themenfeld reicht von internationalen Fragen bis zu gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Wir wollen ein Sammelpunkt für freiheitliche Geister aus allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen sein. Wir mischen uns ein und wollen etwas bewegen. Dabei geht es nicht nur um einen zukunftsoffenen Diskurs, sondern um konkrete Anstöße für politisches und zivilgesellschaftliches Handeln.“ Ziel des Zentrums ist es, die offene Gesellschaft gegen die von autoritären Kräften angeheizte antiliberale Revolte zu verteidigen, die nicht nur in Deutschland, sondern auch international an Unterstützung gewinnt.

Die 1952 geborene Marieluise Beck arbeitete als Lehrerin, ehe sie deutsche Politikerin der Partei Bündnis 90/ Die Grünen wurde. Neben ihrer Tätigkeit als Bundestagsabgeordnete war sie Sprecherin ihrer Fraktion für Osteuropapolitik und Ausländerbeauftrage der deutschen Bundesregierung. Für ihre Arbeit, die internationale Bedeutung erlangte, erhielt sie 1996 das Verdienstkreuz am Bande und 2022 das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. 2016 wurde sie mit dem Ramer Award For Courage In The Defense of Democracy des American Jewish Committee (AJC) ausgezeichnet. Sie genießt hohes Ansehen als Verfechterin einer menschenrechtsorientierten Außen- und Sicherheits politik und verfügt über weitgespannte Netzwerke in Politik und Zivilgesellschaft in der Ukraine und Südosteuropa.

Die Arbeit des Zentrums Liberale Moderne konzentriert sich auf verschiedene Schlüsselbereiche, um die liberale Demokratie zu stärken und zu fördern. Einer dieser Bereiche ist die Forschung und Analyse zu verschiedenen Themen, darunter soziale Gerechtigkeit, interkultureller Dialog und liberale Demokratie selbst. In Workshops und Konferenzen lädt das ZLM renommierte Wissenschaftler, Experten und politische Entscheidungsträger aus der ganzen Welt ein, um Ideen auszutauschen und Strategien zur Förderung von liberaler Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft, Regierungen und dem Privatsektor. Diese Veranstaltungen tragen dazu bei, ein tieferes Verständnis dieser Probleme zu fördern und Netzwerke von Aktivisten und Organisationen aufzubauen, die durch neue Kooperationen positive Veränderung schaffen können.

Das ZLM veröffentlicht darüber hinaus regelmäßig eine Reihe von Publikationen, wie Grundsatzpapiere, Berichte und Bücher, die darauf abzielen, ein besseres Verständnis der gesteckten Ziele zu fördern und die öffentliche Debatte anzuregen.

 

Hitlers Machtübernahme war nur möglich, weil
große Teile der Gesellschaft – gerade die Eliten in Wirtschaft, Justiz und
Verwaltung – der liberalen Demokratie distanziert
bis feindselig gegenüberstanden.
Marieluise Beck

 

Im Rahmen von Schulungs- und Kapazitätsaufbauaktivitäten für zivilgesellschaftliche Organisationen, Journalisten und politische Entscheidungsträger will das ZLM die Fähigkeit dieser Gruppen stärken, sich für die Interessenvertretungen einzusetzen. Aktuelle Projekte des Zentrums sind unter anderem die Auswirkungen des Ukrainekrieges, Italien unter Meloni, die Klimakrise, Fragen um die Stabilität der Demokratie in Ungarn und Polen sowie Fragen rund um die aktuelle politische Krise in Israel.

Das Zentrum wird von einem zwölfköpfigen Gesellschaftergremium getragen, darunter auch das American Jewish Committe, das in Berlin seit 25 Jahren von Deidre Berger geleitet wird. Marieluise Beck versteht die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises als „Menschen, bei denen wir davon ausgehen konnten, dass sie diese Idee des ZLM teilen. Das sind einmal zum Teil Staatsmänner und -frauen aus den vier demokratischen politischen Parteien in Deutschland und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die eben auch für diesen Gedanken stehen. Mit dem AJC haben wir vieles zusammen gemacht, und Deirdre Berger war als Person auch so jemand, die in diesen Gesellschafterkreis aufgenommen wurde. Dies transportiert auch, dass mein Mann und ich eine spezifische Beziehung zu Israel und zum Judentum haben. Ich glaube, das passt gut zu unserer politischen Biografie.“

Obwohl das ZLM sich nicht explizit zur Aufgabe gemacht hat, den Antisemitismus zu bekämpfen, sieht es das Aufzeigen antisemitischer und rassistischer Tendenzen als wichtigen Bestandteil seiner Arbeit. Einer der Gründe, warum Marieluise Beck die Existenz und das Fortbestehen des Antisemitismus sieht, ist, dass „Juden immer an ihrer Tradition und damit als Gruppe festgehalten haben. Also sich nicht haben assimilieren lassen, jedenfalls nicht, was den Glauben anbelangt.“ Für sie hat der deutsche Antisemitismus eine zusätzliche spezifisch rassistische Variante. „Das Judentum wurde im Nationalsozialismus nicht mehr so definiert, wie Juden es selber definiert haben, weitergegeben von einer jüdischen Mutter und damit der Glaubensgemeinschaft zugehörig. Mit Hitler kommt ein rassischer Begriff ins Spiel, der die jüdischen Gesetze beiseite wischt. Es spielen nicht mehr Vater oder Mutter eine Rolle als die, die Religion und damit die Zugehörigkeit weitergeben, sondern es spielt nunmehr eine konstruierte rassische Herkunft eine Rolle, die vollkommen absurd ist, weil es keine jüdische Rasse gibt.“

„Antisemitismus sieht manchmal prollig aus.“ Neben ihrer intensiven Tätigkeit beim ZLM ist Marieluise Beck auch Mitglied der Kommission für die Restitution des NS-Verfolgungsbedingten Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz, der ehemaligen Limbach Kommission. In dieser Funktion hat sie mit den gutbürgerlichen Bildungsschichten zu tun und erlebt, „wie da geschäumt wird, wenn ein Exponat wieder herausgegeben werden soll an die Erben. Das hat mich fassungslos gemacht. Es geht dann auch bis in die Kommentare des Feuilletons, von dem man zwar eher ausgeht, dass es politisch links ist. Da ist dann aufgeregter Widerstand über Restitutionsentscheidungen, die wir getroffen haben. Antisemitismus sieht manchmal prollig aus, wenn sie ihre Bierzeltlager machen in Lederhosen und Kurzhaarschnitt. Aber ich würde diesen Punkt noch einmal ganz stark machen, der ja auch für Deutschland belegt ist, dass sich der deutsche Antisemitismus vor allem in den bildungsbürgerlichen Schichten abgespielt hat.“

Der Ehemann von Marieluise Beck und Geschäftsführer des ZLM, Ralf Fücks, schreibt in seinem Aufsatz „Neue Rechte, altes Denken“: Dass die NS-Bewegung „die Weimarer Republik überrennen konnte, lag nicht nur an der Weltwirtschaftskrise und der Uneinigkeit der demokratischen Parteien. Hitlers Machtübernahme war nur möglich, weil große Teile der Gesellschaft – gerade die Eliten in Wirtschaft, Justiz und Verwaltung – der liberalen Demokratie distanziert bis feindselig gegenüberstanden“. Marieluise Beck und Ralf Fücks suchen mit dem ZLB gewissenhaft nach einer fundierten Auseinandersetzung mit den tieferliegenden Ursachen und ideologischen Mustern einer immer stärker werdenden „illiberalen Demokratie“ in westlichen Ländern. Sie sehen in ihrer Arbeit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Eindämmung des politischen und religiösen Extremismus.

… zum Entsetzen der sich links Definierenden
wird offenbar, dass sie mit den Rechten in vielen
Punkten übereinstimmen.
Marieluise Beck

 

„Mein Mann war 21 Jahre Vorstand der Heinrich Böll Stiftung, die in Tel Aviv seit langen Jahren ein Büro hat. Er hat in seiner Funktion auch ein bisschen gegengehalten, gegen eine Tendenz, die es innerhalb der deutschen Linken gibt. Unter dem Deckmantel der Kritik des Staates Israel ist die Trennschärfe zum Antisemitismus nicht wirklich zu finden. Ich kann mich an eine heftige Auseinandersetzung erinnern, die wir 1991 als Grüne während des ersten Irakkrieges hatten. Als Saddam Hussein Gasraketen nach Israel geschickt hat und wir innerhalb der Grünen über die notwendige Lieferung von Patriots an Israel diskutierten, wurde dies von einem Teil der Linken abgelehnt. In dieser Geschichte hat die Böll Stiftung mit meinem Mann und mir – ich habe damals auch der Deutsch-Israelischen Gesellschaft angehört – im Parlament dagegengehalten. Inzwischen haben wir auch noch persönliche Beziehungen, denn wir haben jüdische Enkelkinder.“

Wer sind die Guten? Die Auseinandersetzung des ZLB mit der erst vor Kurzem entstandenen Querfront rückte die Selbstwahrnehmung der politischen Linken gerade, die lange Zeit lautete: „Wir sind die Guten, und die Rechten sind die Bösen“. Für Marieluise Beck hat sich die Linke als Gruppe, bei der nach außen Antisemitismus auf keinen Fall vorkommen kann, selbst tabuisiert, denn jetzt „entkleidet sich das ein Stück, weil auf einmal, siehe da, ganz offensichtlich, diese beiden Gruppen hohe Übereinstimmung haben, und zum Entsetzen der sich links Definierenden wird offenbar, dass sie mit den Rechten in vielen Punkten übereinstimmen.“ Gerade in einer Zeit, in der sich die liberale Demokratie in einer tiefen Vertrauenskrise befindet, und sich viele von den demokratischen Institutionen nur unzureichend vertreten fühlen, stellt das ZLM die Ursachen dafür auf unterschiedliche Weise dar.

Marieluise Beck sieht „die Gesellschaft einem tiefgreifenden Wandel und Entwicklungen ausgesetzt, die gleichzeitig und in hohem Tempo vonstattengehen: Globalisierung, Digitalisierung im privaten Leben und in der Arbeitswelt, Wandel von Geschlechterrollen und Familienbildern, weltweite Migration, Finanzkrisen und vieles mehr. Diese Entwicklungen erzeugen Ängste und Sorgen, die populistische Kräfte für sich nutzen und ihnen Auftrieb verschaffen“. Marieluise Beck und Ralf Fücks streichen die besondere Bedeutung des ZLB in der historisch-politischen Bildung für junge Menschen hervor. Gerade die junge Generation befindet sich auf der Suche nach Orientierung und ist „empfänglich für emotionale Botschaften, vermeintlich schlüssige Erklärungsmuster und radikale Identifikationsangebote. Insofern ist unser Projekt auch ein Beitrag zur Extremismusprävention. Die politische Konfliktlinie verläuft nicht länger zwischen Rechts und Links, sondern zwischen autoritären und freiheitlichen Gesellschaftsentwürfen. Um in der Auseinandersetzung mit der antiliberalen Revolte bestehen zu können, möchte das Zentrum der Liberalen Moderne eine demokratische Erneuerung der offenen Gesellschaft aufzeigen“.

Für Marieluise Beck ist das Umfeld, in dem sie wohnt, ein Ausblick in die Zukunft. „Ich wohne in Berlin-Mitte. Wenn ich mit meinen Enkelkindern auf den Spielplatz gehe, habe ich das Gefühl, wir sind da, wo ich hinmöchte. Absolut multikulturell. Es gibt fast kein Elternpaar, dass mit den Kindern nicht zweisprachig umgeht, und bis hin zur Sichtbarkeit der Unterschiedlichkeit, asiatischer Herkunft, afrikanischer Herkunft etc. Dann denke ich, vielleicht wird die Moderne doch einmal so sein. Ich glaube, 2050 werden 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Insofern kann man die Vorstellung haben, so wird die moderne Welt einmal aussehen. Aber gleichzeitig haben wir fundamentalistische Rückwärtsentwicklungen, und dramatischerweise nicht nur beim Islam, sondern auch in der jüdischen Orthodoxie in Israel. Es ist nicht ausgemacht, wie die Welt in 100 Jahren aussehen wird, und deswegen haben wir uns Liberale Moderne genannt, weil es eine Auseinandersetzung mit einer autoritären Moderne ist, die das alles in sich birgt – nämlich Antisemitismus, Rassismus, natürlich auch religiösen Fundamentalismus und Diktatur. Das ist die Alternative.“

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