Die Sommerfrische im 19. Bezirk, die ein brutales Ende fand

Die Historikerin und Autorin Marie-Theres Arnbom zeichnet in ihrem neuesten Buch Die Villen von Pötzleinsdorf das Leben und Wirken vieler jüdischer Bewohner nach. Ein höchst verdienstvolles Unterfangen.

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Urgroßvater der Autorin: Justizminister Robert Winterstein, 1935. ©Familienarchiv Forsher; Archiv Marie-T. Arnbom

Wina: Sie haben als Historikerin eine Reihe von Büchern über Villen in Bad Ischl, am Traunsee, Attersee und Wolfgangsee geschrieben. Was war Ihre Motivation, sich jetzt Pötzleinsdorf zu widmen?
Marie-Theres Arnbom: Auch Pötzleinsdorf ist eine alte Sommerfrische, doch ist dies bei den Wiener Außenbezirken ein wenig in den Hintergrund gerückt. Da meine Familie bereits seit mehr als 100 Jahren in Pötzleinsdorf im Umfeld dieser Sommerfrischegesellschaft lebt, war es naheliegend, meine engere Heimat einmal zu beleuchten. Erstaunlich, wie wenig ich darüber wusste.

Ihr Urgroßvater Robert Winterstein amtierte als Justizminister bis 1936. Er wurde 1940 im KZ Buchenwald ermordet. Existiert dieses Familienhaus noch?
Meine Urgroßeltern ließen von Hubert Gessner, einem der Architekten des Roten Wiens, im Jahr 1935 eine Villa erbauen, die heute, fast unverändert, noch existiert. Nach der Verhaftung meines Urgroßvaters im März 1938 blieb meine Urgroßmutter in der Villa, ihre drei Söhne flüchteten. Nach dem Krieg wohnten dann auch meine Großeltern in der Villa, gemeinsam mit meiner Mutter und meinem Onkel. Auch unsere Generation wuchs noch in dieser Villa auf.

»Es muss sich Entsetzliches abgespielt haben – wie in ganz Wien in diesen Märztagen. Viele Menschen
setzten ihrem Leben lieber selbst ein Ende,
bevor es die anderen tun konnten.«
Marie-Theres Arnbom

Der unermessliche Verlust von so vielen innovativen Unternehmern, kreativen Künstlern aller Sparten sowie kunstsinnigen Förderern und Menschen mit großer sozialer Verantwortlichkeit wird einem auf jeder Seite Ihres akribisch recherchierten Werkes schmerzlich bewusst. Jede einzelne Familiengeschichte wäre in ihrer Vielfalt und Dramatik geeignet für ein eigenes Filmskript. Wie erklären Sie sich die Dichte an jüdischen Familien in diesem Bezirk, der damals als Ort der „Sommerfrische“ gegolten hat?
Auch in Pötzleinsdorf bedeutete Sommerfrische, dass man die Zeit auf dem Land mit Familie und Freunden verbringt. Daher trafen sich im Sommer immer Menschen, die auch im Winter miteinander verkehrten, beruflich wie privat. In Pötzleinsdorf fällt die Dichte an Textilindustriellen auf – sie alle waren verbunden durch ihre Unternehmen in Böhmen. Und einer Familie zogen andere nach. Viele dieser Familien waren jüdischen Ursprungs, daraus erklärt sich die Dichte – diese hatte ich aber zu Beginn meiner Recherchen absolut nicht erwartet, das war in Pötzleinsdorf auch völlig unbekannt.

Der 1888 erbaute Sommersitz – Villa mit Ecktürmchen – des Bankiers Alois Engel Mainfelden: damals und heute.

Ihre aufwendigen Recherchen führten Sie in alle Welt und umspannen einen zeitlichen Rahmen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. So kommt es auch, dass die türkische Freundin ihrer Großmutter sephardische Wurzeln hatte, die bis auf den falschen Messias Shabtai Zvi im 17. Jahrhundert zurückreichen. Die Residenz der israelischen Botschafter geht auf eine Schenkung von Erich Moller zurück, jenem tschechisch-österreichischen Textilkaufmann, der als Zionist bereits 1934 die Textilfabrik ATA in Palästina gegründet und die erste Kibbuz- und Arbeiterkleidung produziert hat. Sie sind reichlich jüdischer Geschichte begegnet?
Das stimmt, gerade die Geschichte der Dönmes hat mich sehr fasziniert und ein spannendes neues Thema erschlossen. Die gleichzeitig auftretenden liberalen Entwicklungen in verschiedenen Gesellschaften zeigen deutlich die internationalen Verbindungen auf.
Ich bin auch zionistischer Geschichte begegnet. Bei Familie Marmorek beispielsweise stand im Vorzimmer eine blaue Sammelbüchse, in die sowohl Gäste wie auch Kinder Münzen für zionistische Zwecke einwarfen. Und Hans Moller gelang es, einige der Maschinen aus der Fabrik der Familie Spiegler im tschechischen Hronov nach Israel, eigentlich Palästina, mitzunehmen und die Firma ATA aufzubauen.
Familie Rezek, ein weiteres Beispiel, erwarb auf einer Reise nach Indien in Palästina ein Grundstück, wohl auch aus zionistischer Gesinnung. Davon weiß ich, weil es 1938 in der Aufstellung des Vermögens aufgelistet ist.

Trude Forsher-Adler notiert Elvis Presleys Wünsche in seiner Garderobe, 1956. © ÖNB; Familienarchiv Forsher; Archiv Marie-T. Arnbom

Obwohl die Familien erfolgreich und wohlhabend waren, fällt in den 31 Kapiteln auf, wie viele Menschen 1938 hier Selbstmord begangen haben?
Es muss sich Entsetzliches abgespielt haben – wie in ganz Wien in diesen Märztagen. Das wissen wir auch aus vielen Erzählungen und Autobiografien. Viele Menschen konnten diese Demütigungen, die Rechtlosigkeit, diese Aggression und diesen Hass nicht ertragen und setzten ihrem Leben lieber selbst ein Ende, bevor es die anderen tun konnten.

Zahlreiche Wahrzeichen unserer Stadt und des gesamten Landes wurden von jüdischen Menschen begründet oder errichtet, die in Vergessenheit gerieten: Der Bankier Philipp Broch steht für den Beginn des kommerziellen Tourismus in St. Gilgen; Ernst Hochmuth war mit Ernst Lothar für die Errichtung der Wiener Messe 1921 verantwortlich; den legendären Vergnügungspark Venedig im Wien im Prater erbaute Oskar Marmorek; die Idee für das Riesenrad kam vom gebürtigen Temeswarer Theaterdirektor Gábor Steiner, der 1944 in Beverly Hills verstarb. Obwohl die jüdischen Bewohner von Pötzleinsdorf großteils assimilierte, liberale Bürger waren, kamen nach 1945 sehr wenige zurück, warum?
Wären Sie zurückgekommen zu den Menschen, unter deren johlender Freude Sie einst die Straße waschen mussten? Die vor der Polizeistation „Nach Dachau!“ skandiert haben? Die vor Ihren Augen Ihr Eigentum gestohlen haben? Und sich nach 1945 plötzlich als freundliche Nachbarn aufspielten? Meine Antwort lautet: nein. All diejenigen, die doch zurückkamen, hatten zwei Möglichkeiten: Den sogenannten Schulterschluss zur ‚Stunde Null‘, deren Existenz ich anzweifle. Das Ignorieren der vergangenen Jahre, der Taten der Menschen, mit denen man nun wieder zusammenlebte und -arbeitete. Natürlich gibt es nicht nur Schwarz und Weiß, aber all diese entsetzlichen Demütigungen zu vergessen, war unmöglich.

Pötzleinsdorfer Straße 136: Dora und Hans Adler kauften diese Villa sechs Tage vor der Geburt
ihrer Tochter Trude 1920

Sie beschreiben auch das schändliche und beschämende Verhalten der Behörden nach dem Krieg. Dennoch fochten einige frühere Besitzer die Rückgabe trotz aller Widerlichkeiten durch. Danach verkauften viele die Häuser umgehend. Die Theaterfamilie Kalbeck bildet da eine der wenigen Ausnahmen. Warum?
Was hätte man in Kolumbien mit einer Villa in Pötzleinsdorf anfangen sollen, deren Möbel und Einrichtung zum Teil gestohlen war, die sich auch oft in einem schlechten Zustand befanden. Bei den Rückstellungsverhandlungen wurde meistens ein Vergleich geschlossen, und die ehemaligen Eigentümer bekamen eine kleine Summe zuerkannt. Natürlich verkauften sie die Villen zu einem günstigen Preis und ließen Österreich hinter sich.
Florian Kalbeck hatte, ähnlich wie Heinrich Schnitzler, die Möglichkeit, wieder am Theater zu arbeiten – gerade für Regisseure und Theatermacher war die Sprache essenziell. Sicher mussten sie vieles ausblenden, aber das Theater war ihr Leben.

Marie-Theres Arnbom:
Die Villen von Pötzleinsdorf. Wenn Häuser Geschichten erzählen.
Amalthea Signum Verlag, 272 S., € 26

Sie schreiben, dass Ihr Buch eigentlich erst der Anfang der Aufarbeitung sei. Wie meinen Sie das?
Ich versuche – nicht nur in Pötzleinsdorf – Denkanstöße zu geben. Jeder sollte sich mit der Geschichte seines Hauses, seiner Umgebung auseinandersetzen. Die Recherche hat mir gezeigt, dass es noch sehr vieles gibt, das unbekannt ist und einer Aufarbeitung bedarf.

Haben Sie eine Idee, wie man die Erinnerung an diese Menschen, denen Sie ein ehrendes literarisches Denkmal gesetzt haben, lebendig erhalten kann?
Mit der Bezirksvorsteherin habe ich über Stolpersteine gesprochen, dieses Projekt werden wir weiterverfolgen. Geplant ist auch die Aufstellung einer Gedenktafel am Gelände der Villa Regenstreif. Wir müssen das Gedenken an diese Menschen im öffentlichen Raum sichtbar machen.

 

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