„Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.
Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.“ 

Das schrieb der russische Poet Jewgenij Jewtuschenko 1961 in seinem Memorialgedicht Babij Jar, das Paul Celan ins Deutsche übertrug. Und der Redenschreiber des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier montierte diese Zeilen in eine Rede, die dieser im Spätherbst 2021 ebendort, in der Ukraine, anlässlich der 80. Wiederkehr des Massakers an geschätzt 34.000 Jüdinnen und Juden hielt.

Sehr viele dieser Tage erscheinende Bücher beginnen mit einem angesichts der Ereignisse seit dem Überfall PutinRusslands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 tagesaktuellen Vorwort. So auch jenes mit dem Titel Offene Wunden Osteuropas, das im ersten Moment pathetisch und leicht krude anmutet, doch nach den ersten Seiten vollkommen einleuchtet. Denn allzu stupend und auf der Hand liegend sind der zerstörerische, Menschenleben schon im Ansatz verachtende zynische Imperialismus der Nationalsozialisten und Putins. Sind die Wunden, die in Mittelost- und Osteuropa offensichtlich, die bis heute nicht verheilt sind.
Erst recht nicht – überragt von rhetorischen Leerformeln – Hitlers brutaler, einem rassistischen Wahn entsprungener Vernichtungsfeldzug und -krieg. Nicht verheilt ist die Topografie der Vernichtung in der Ukraine und in Belarus, nicht in den baltischen Staaten, in Polen oder Russland. Nicht in Lagern, Wäldern und Steinbrüchen, nicht bei Kiew, nahe Odessa, vor der Stadtgrenze von Kaunas, in hierzulande fast bis gänzlich unbekannten Orten Berdytschiw, Lypowez und Mizocz. Darum kreist dieser erhellende Band.

Franziska Davies & Katja Makhotina: Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs. wbg Theiss 2022, 288 S., 28,80 €

Es geht in zehn stilistisch angenehm nüchtern gehaltenen Kapiteln nach Warschau und nach Lwiw, nach Babyn Jar, Minsk und Maly Trostinez, nach Stalingrad, Leningrad und Wilna, nach Chatyn, Pircipius und Korjukiwka, schließlich nach Belzec und Majdanek.

Klug präsentieren sich die beiden Autorinnen gleich zu Anfang innerhalb des Rahmens ihrer eigenen durch den Zweiten Weltkrieg teils nachhaltig, teils einschneidend geprägten Familiengeschichte. Makhotina, 1982 in Leningrad, heute wieder St. Petersburg, geboren, in Deutschland universitär ausgebildet und aktuell Lehrstuhlvertreterin für Osteuropäische Geschichte in Bonn, entstammt einer sowjetisch-jüdisch-tatarisch-russischen Familie. Einer ihrer Großväter konnte als Kind noch kurz, bevor sich der Belagerungsring um Leningrad zur Gänze schloss, evakuiert werden und überlebte; viele seiner Freunde blieben zurück und verhungerten. Der Großonkel des Großvaters war der Einzige der Familie, der die Shoah überlebte, Bruder und Eltern starben im Ghetto von Minsk. Der andere Großvater Makhotinas verlor sein Leben an einem unbekannten Ort beim Kampf um die Ortschaft Orjol an der Oka, geblieben ist von ihm kein Grab, einzig ein einzeiliger Eintrag in der „Allgemeinen Datenbank“ der Gefallenen.

Die Familie von Franziska Davies, derzeit als Osteuropahistorikerin an der Universität München tätig und seit Oktober 2021 Gastwissenschaftlerin am Deutschen Historischen Institut in Warschau, ist deutsch und britisch.

Wer hat schon vom „Neunten Fort“ im litauischen Kaunas gehört, dem „Testgelände für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden“?

Ihre Mutter kam 1944 in Königsberg, heute Kaliningrad, zur Welt, deren Großmutter floh kurz vor Kriegsende mit ihr und der größeren Schwester nach Westen, nach Niedersachsen. Der Großvater war als Beamter in die „Eindeutschung“ Polens involviert, also in der Enteignung von Juden, später war er Soldat an Ost- wie Westfront. Davies’ Vater stammt aus Nordengland, bei der Familie Davies lief ständig das Radio mit BBC-Nachrichten und den Ansprachen Churchills.

Auf dem heutigen Kultur- und Freizeitpark wurden 1941 33.000 Juden und Jüdinnen aus Kiew von NS-Soldaten ermordet.

Erschütternd zu lesen sind die „Vergeltungsaktionen“ – bereits der gehirngewaschene Propagandajargon der 1930erund 1940er-Jahre macht überdeutlich, dass Diktaturen stets zuerst Begriffe „umprogrammieren“ und Wortbedeutungen ins Gegenteil verkehren. Korjukiwka in der Ostukraine ist solch eine Entdeckung der Erinnerung. Anfang März 1943. Ein SS-Sonderkommando, aufgestockt durch ungarische Pfeilkreuzler-Soldateska, trieb rund 6.700 Menschen des Ortes zusammen, erschossen alle und steckten anschließend 1.290 Häuser in Brand. Eine von 670 Siedlungen, denen es ebenso ging. Und wer hat schon einmal von Blagowschtschina gehört, in der Nähe von Minsk, einem Todeslager, in dem annähernd 150.000 Juden und Weißrussen grausamst ermordet wurden? Und wer vom „Neunten Fort“ (IX fortas) im litauischen Kaunas, „Testgelände für die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden“, so Davies/Makhotina. Dort wurde erstmals erprobt, was dann in Treblinka, in Auschwitz, in Majdanek praktiziert wurde – Massenmord in industriellem Ausmaß.

Mit diesem an Erkenntnissen reichen, multiperspektivischen Buch, das ebenso die Aufarbeitung, besser: das Silentium, das Verschweigen, in den unterschiedlichen Nachkriegssystemen des freien Westens wie des realsozialistischen Ostens unter die Lupe nimmt, in dem das Autorenduo tatsächlich die Meridiane der Schreckensgeografie nachreiste, auch zusammen mit Studentinnen und Studenten, in dem die beiden Historikerinnen auch Gespräche mit Zeitzeugen und mit Museumspädagogen verarbeiten, die sie mit historischen Quellen, Selbstzeugnissen und Täter- wie Opferdokumenten verweben, liegt eine Gedenkerforschung von großer Intensität vor. Jewgeni Jewtuschenko:

„Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum an,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.“

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here