Ein Gerechter aus Japan

Vor 80 Jahren rettete der japanische Konsul in Litauen Chiune Sugihara gegen den Willen seiner Regierung tausenden Juden das Leben.

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Chiune Sugihara arbeitete bis zu 20 Stunden am Tag, um rund 2.500 Transitvisa zu vergeben. Da damals Visa für eine ganze Familie galten, rechnete Yad Vashem hoch, dass der zwischen 6.000 und 10.000 Menschen das Leben gerettet haben muss. © Petras Malukas/AFP/picturedesk.com

„Ich habe es getan, weil sie Menschen waren und Hilfe benötigten.“

So einfach und lapidar antwortete nach 1945 ein mutiger japanischer Diplomat, der sich Anweisungen des Außenamtes in Tokio widersetzte und damit mehr als 6.000 jüdischen Verfolgten 1940 im litauischen Kowno (Kaunas) das Leben rettete.
Genau 80 Jahre ist es her, dass der am 1. Jänner 1900 in Kōzuchi (heute Mino) geborene Chiune Sugihara als Vizekonsul fern der Heimat eine außergewöhnliche Entscheidung treffen musste, die sein berufliches und privates Leben beträchtlich beeinflussen sollte. Mit 40 Jahren bestand Sugihara diese menschliche Bewährungsprobe trotz traditionell-japanischer Disziplin und anerzogener Korrektheit. Doch worin bestand Sugiharas Heldentat, die er später so bescheiden herunterspielte?
Für den exzellenten Schüler, sein Vater gehörte zur Mittelklasse, die Mutter stammte aus einer Samurai-Familie, deutete nichts darauf hin, dass er am Zenit seines Lebens zu einem „japanischen Schindler“ werden würde. Dennoch widersetzte er sich dem Wunsch seines Vaters, Medizin zu studieren, indem er absichtlich bei der Aufnahmsprüfung leere Blätter abgab. Stattdessen ging er ab 1918 auf die angesehene Waseda-Universität und studierte englische Literatur. Er bewarb sich im Außenministerium, wurde angestellt und nach Harbin in die Mandschurei, eine Provinz der Volksrepublik China, geschickt, wo er auch Russisch und Deutsch lernte und schnell zu einem Experten für russische Angelegenheiten wurde.
Mit 24 Jahren heiratete er die Weißrussin Klaudia Semionova Appolovna und trat zum griechisch-orthodoxen Glauben über. Er verließ seinen Posten als stellvertretender Außenminister im japanischen Marionettenstaat Mandschukuo aus Protest gegen japanische Misshandlungen der örtlichen chinesischen Bevölkerung. 1935, vor seiner Rückkehr nach Japan, ließ er sich scheiden und heiratete im gleichen Jahr die Japanerin Kikuchi Yukiko. Knapp zwei Jahre war er in Helsinki an der japanischen Gesandtschaft tätig, bevor er 1939 als Vizekonsul an das japanische Konsulat in Kaunas nach Litauen entsandt wurde.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt kein einziger Japaner in der Stadt lebte, den es konsularisch zu vertreten galt, hatte Sugihara eine wichtige Aufgabe: Er sollte sowjetische und deutsche Truppenbewegungen auskundschaften, da Japan seinen Verbündeten Nazi-Deutschland verdächtigte, sowohl einen Geheimpakt mit Josef Stalin auszuhecken wie auch die Invasion der Sowjetunion zu planen. Durch Kontakte mit polnischen Spionen konnte Sugihara beide Verdächtigungen als zutreffend bestätigen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges lag westlich der baltischen Staaten Hitlerdeutschland und östlich die stalinistische Sowjetunion.
Die jüdischen Flüchtlinge, die nach dem deutschen Überfall auf Polen von dort geflohen waren, konnten von Herbst 1939 bis zum 15. Juni 1940 ohne Probleme in Litauen leben, denn Kaunas war zehn Monate provisorisch „die Hauptstadt des unabhängigen Litauen“. Es wurde das „Casablanca des Norden“ genannt, weil es zum Zentrum der Spionage und zu einem zeitlich begrenzten Refugium für Flüchtlinge wurde, die sowohl vor der sowjetischen wie auch der Nazi-Besatzung geflohen waren. Mit dem Einmarsch der Sowjets in Litauen Mitte Juni 1940 stieg die Verzweiflung der jüdischen Flüchtlinge, und sie suchten abermals nach einem sicheren Zufluchtsort.

Fluchtroute. Angesichts des Krieges war Japan ein wichtiges Transitland für die Weiterreise in sichere Länder. © Petras Malukas/AFP/picturedesk.com

Die niederländische Hilfe zur Flucht. Vilnius (Wilna, auch „Jerusalem des Ostens“ genannt) und Kaunas waren berühmt für ihre jüdischen Talmud-Hochschulen (Jeschiwot) und zogen Lehrende und Studierende aus aller Welt an. Chaim Nussbaum war gleichzeitig Flüchtling und holländischer Student. Er hatte Kontakt zum amtierenden niederländischen Konsul Jan Zwartendijk, der ihm ab und zu Zeitungen aus der Heimat weitergab. Nussbaum hatte aus Riga gehört, dass man für die Einreise in die niederländischen Kolonien wie Surinam oder Curaçao keine Visa benötigte. Jan Zwartendijk war kein Berufsdiplomat, sondern Direktor der Philips-Niederlassung in Litauen. Die Botschaft in Riga war für alle baltischen Staaten zuständig und empfahl zu helfen: So genannte „Niederlassungspapiere“ für die karibischen Inseln wurden genehmigt. Vom 23. Juli 1940 bis 3. August, als die Sowjets alle Botschaften und Konsulate zum Auszug aufforderten, gelang es „Dr. Philips-Radio“, so der Spitzname von Zwartendijk, 2.345 solcher „Visas“ für Curaçao auszustellen.
Doch die Flüchtlinge wussten, dass angesichts des Krieges nur noch Japan als Transitland für die Weiterreise in die USA oder nach Palästina infrage kam und die sowjetischen Behörden niemanden ohne entsprechende Papiere ausreisen ließen. Daher benötigten sie noch ein Ausreisedokument aus der sowjetischen Teilrepublik und ein Transitvisum nach Japan. „Mein Vater war schon beim Packen seiner Sachen, als sich eine große Menschenmenge vor dem Konsulat versammelte“, erzählte viele Jahre später Sugiharas jüngster Sohn Nobuki. Eine jüdische Delegation wurde von Zerach Wahrhaftig angeführt, er war Jahre später Religionsminister in der israelischen Regierung. Sugihara willigte ein, sich zu einem kurzen Gespräch mit der Delegation zu treffen. Diese war gekommen, um ihn zu bitten, Durchreisevisa auszustellen. Nur mit Hilfe dieser Transitpapiere würden sie Erlaubnis erhalten, die Sowjetunion zu durchqueren.
Zu dieser Zeit verfolgte die japanische Regierung offiziell eine Neutralitätspolitik gegenüber den Juden. Allerdings forderte sie, dass Visa nach Durchlaufen der Immigrationsformalitäten nur an Personen mit ausreichenden Mitteln erteilt werden sollten. Die meisten Flüchtlinge erfüllten diese Kriterien nicht. Sugihara konsultierte pflichtgemäß drei Mal das japanische Außenministerium bezüglich Instruktionen. Doch Tokio befahl ihm jedes Mal umgehend, auf keinen Fall Visa an mittellose Flüchtlinge auszustellen. Sugihara war durch das Los dieser verzweifelten Menschen so aufgewühlt, dass er begann, auf eigene Initiative und ohne den Rückhalt seines Ministeriums Visa auszustellen.

Transitpapiere nach Japan ermöglichten die Ausreise aus dem sowjetischen Litauen. © Petras Malukas/AFP picturedesk.com

In den nächsten sechs Wochen arbeitete Sugihara unermüdlich bis zu 20 Stunden am Tag, um rund 2.500 Transitvisa zu vergeben. Da damals Visa für eine ganze Familie galten, rechnete Yad Vashem in Jerusalem hoch, dass der mutige Japaner zwischen 6.000 und 10.000 Menschen das Leben gerettet haben muss. Sugihara handelte nicht nur verdeckt, er machte sich auch offiziell für die Rettung der Juden stark: Dem sowjetischen Volkskommissar für auswärtige Beziehungen schlug er vor, die jüdischen Visum-Antragsteller mit der Transsibirischen Eisenbahn bis an den Pazifik zu schicken und von dort weiter nach Japan reisen zu lassen. Dies wurde umgesetzt, tausende Juden konnten so nach Japan und teilweise von dort weiter in die USA reisen.

Das Leben danach. Das japanische Außenministerium beschloss, Disziplinarmaßnahmen gegen Sugihara aufzuschieben, weil seine Sprach- und Organisationstalente noch weiter benötigt wurden: Er diente als Generalkonsul in Prag, wo er erneut rettende Visa ausstellte. Ab 1941 folgten Posten in Königsberg (Kaliningrad) und Bukarest. Als Truppen der Roten Armee in Rumänien einmarschierten, wurden Sugihara und seine Familie 18 Monate in einem Kriegsgefangenenlager interniert. 1946 wurden sie entlassen und kehrten mit der Transsibirischen Eisenbahn und über den Hafen Nachodka nach Japan zurück. Hier wurde ihm von seinen Vorgesetzten der Rücktritt nahegelegt. In der Folge arbeitete der Vater von vier Söhnen für eine US-Handelsfirma, anschließend als Russischlehrer und für das japanische Fernsehen NHK. Von 1960 bis 1976 lebte er in Moskau und bekleidete verschiedene Posten bei russisch-japanischen Handelsfirmen.
Erst im Jahr 1968 machte Jehoshua Nishri, Wirtschaftsattaché der israelischen Botschaft in Tokio und einer der dank Sugihara Überlebenden, seinen Wohltäter ausfindig. 1969 besuchte Sugihara Israel und wurde auch von Minister Wahrhaftig empfangen. Erst ab dann begannen Sugihara-Überlebende mit der Lobbyarbeit, damit er als Gerechter unter den Völkern geehrt werden möge. Als erster und einziger Japaner wurde Chiune Sugihara schließlich 1985 für seine aufopfernde Heldentat von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt. Der Ausgezeichnete schaffte es ein Jahr vor seinem Tod nicht mehr, an der Zeremonie teilzunehmen, seine Frau musste ihn vertreten. Warum zwischen Sugiharas Auffinden und der Ehrung 17 Jahre vergehen mussten, bleibt ein Rätsel.
Litauen hat das Jahr 2020 zum „Jahr des Chiune Sugihara“ deklariert und stellt ein reichhaltiges offizielles Programm zusammen, das eine Ausstellung im litauischen Parlament, Konferenzen, Kulturveranstaltungen, eine Briefmarke und die Errichtung eines Denkmals in Kaunas umfassen soll. Weltweit gibt es bereits vier Sugihara-Museen und einige Verfilmungen seines Lebens.
In Wien gedachte man des japanischen Retters aus Kowno bereits Anfang 2020: Auf Initiative von Dr. Robert Kratz und in Zusammenarbeit mit dem Hayek-Institut fand eine Veranstaltung in Anwesenheit des japanischen und niederländischen Botschafters statt, bei der das Leben und Wirken Sugiharas gewürdigt wurde. Die Enkelin des Geehrten, Madoka Sugihara, Vorsitzende der NGO Visas for Life sandte eine Grußbotschaft nach Wien.
„Als Kind habe ich nie gewusst, dass mein Vater tausende Menschenleben gerettet hatte. Er war Kaufmann, und wir lebten in einer kleinen Küstenstadt 34 Meilen südlich von Tokio“, erinnert sich Sohn Nobuki Sugihara. „Wenn er nicht auf Geschäftsreise in Moskau war, half er mir bei den Hausaufgaben in Mathematik und Englisch.“
Nobuki, Jahrgang 1949, lebte eine zeitlang in Israel und wurde dann Diamantenhändler in Antwerpen. Ein „fast“ jüdisches Schicksal.

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