Eine kleine Minderheit

Das, was man im Netz liest, spiegelt die Wirklichkeit nicht immer so wieder, wie sie ist. Angesichts des erstarkenden Antisemitismus im Internet ist das allerdings ein schwacher Trost.

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Der nächste Nationalratswahlkampf ist voll im Laufen, und an manchen Tagen ist einem danach, sich gar nicht erst in die sozialen Medien einzuloggen. Von Wahlkampf zu Wahlkampf wird nicht nur der Ton zwischen den Parteien, sondern auch jener unter den jeweiligen Unterstützern beziehungsweise Wählern rauer. Nüchtern betrachtet, wird hier allerdings mehr ein Gefühl vermittelt, als dass der Graben tatsächlich unüberbrückbar wäre.
Die Social-Media-Expertin Ingrid Brodnig hat das Userverhalten im Nationalratswahlkampf von 2017 analysiert. Demnach kamen 73 Prozent der Kommentare auf Facebook-Seiten von Politikern oder politischen Parteien von nur einem Fünftel der Nutzer, wobei sich das Gros der Schreibenden allerdings lediglich wenig einbrachte.
Ausgewertet wurden 786.016 Kommentare, die zwischen 1. Jänner und 14. Oktober 2017 gepostet wurden. 172.435 Facebook-Nutzer haben mitdiskutiert – allerdings hat etwa die Hälfte von ihnen nur einmal gepostet. Die meisten User schreiben also wenig – und ganz wenige viel. Nach Brodnigs Analyse veröffentlichten die 200 aktivsten User 73.854 Kommentare. Damit sind die Netzdebatten ein Zerrspiegel: Sie geben vor abzubilden, wie „das Volk“ oder „die Menschen“ denken. De facto wird aber nur das sichtbar, was eine lautstarke Minderheit die anderen wissen lassen möchte.

Damit sind die Netzdebatten ein Zerrspiegel: Sie geben vor abzubilden, wie „das Volk“ oder „die Menschen“ denken. De facto wird aber nur das sichtbar, was eine lautstarke Minderheit die anderen wissen lassen möchte.

Für den laufenden Nationalratswahlkampf liegen solche Zahlen nicht vor. Warum? Facebook macht die entsprechenden Analysetools Journalisten und Wissenschaftern nicht mehr zugänglich. Das ist eine Folge des Cambridge-Analytica-Skandals. Auch dieser Aspekt zeigt die Ambivalenz im Umgang mit Social Media: Ein Skandal, der publik machte, wie Wahlen beziehungsweise Wähler beeinflusst werden könn(t)en, führt dazu, dass noch weniger Einblick gewährt wird, wie Social Media funktionieren.
Antisemitismus findet das ganze Jahr über Eingang in das Netz, ganz unabhängig davon, wann und wo eine Wahl stattfindet. So steigt die Zahl antisemitischer Einträge kontinuierlich an. Legt man die Erkenntnisse Brodnigs von der Nationalratswahl 2017 auf diesen Bereich um, ist davon auszugehen, dass es ein kleiner Anteil der Poster und Posterinnen ist, der Judenfeindliches im Netz hinterlässt.
Aber auch sie sind laut – und dadurch, dass das Netz nichts vergisst, wird Antisemitismus im Internet immer präsenter. Wie die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel nun in einer Studie belegte (siehe auch Bericht), findet sich Judenfeindliches zudem nicht nur in Debatten, sondern auch auf Ratgeberseiten oder in Youtube-Clips. Diese Inhalte werden auch oft von Kindern und Jugendlichen aufgerufen oder durchsurft. Das wiederum führt dazu, dass höchst problematische Inhalte so oft aufpoppen, dass sie von jenen, die das Gelesene nicht hinterfragen, für wahr gehalten werden. Und liest man etwas nur oft genug, dann bleibt etwas hängen.
Ob Aufklärung und das Befassen mit der Geschichte des Antisemitismus, wie von der Expertin vorgeschlagen, hier tatsächlich das allein wirkende Gegenmittel sind? Ja. Aufklärung ist immer gut. Nur: Die Datenmengen im Netz werden immer größer und größer, und ein antisemitischer Kommentar ist schneller in eine Onlinedebatte gerotzt, als Aufklärung greifen kann. Vielleicht sollte doch auch über striktere rechtliche Regeln nachgedacht werden, was im Netz gesagt werden darf oder nicht. Auch wenn dann manche Verbotsgesellschaft schreien – das Appellieren alleine reicht nicht. Das erleben wir alle Tag für Tag in den sozialen Medien.

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