Einheit in der Vielfalt – Editorial

„Die Einheit, die wir anstreben, besteht nicht darin, dass wir alle gleich sind, sondern darin, dass wir uns gegenseitig respektieren und unsere Unterschiede als Bereicherung anerkennen.“ Rabbi Lord Jonathan Sacks

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„Vielfalt ist das einzig Wahre, das wir alle gemeinsam haben. Feiern Sie sie jeden Tag! © canvas

Zugfahrten können lang und ungemütlich werden. Oder aber auch spannend und inspirierend, wenn man bereit ist, sich den Mitfahrenden zu widmen. So geschah es vor Kurzem, als ich auf einer längeren Fahrt eine amerikanische Familie kennenlernte: Der ältere Mann, der schräg gegenüber von mir saß, hatte die Shoah als Kind in Budapest überlebt, sein Vater wurde ermordet, seine Mutter flüchtete mit ihm 1956 aus Ungarn – in der Hoffnung auf ein glückliches Leben im freien Westen. Als ihm beim Abschied von seinem besten Freund, sie waren damals beide 12 Jahre alt, die Tränen herunterliefen, sagte dieser zu ihm: „Wieso weinst du, das hier ist doch nicht deine Heimat.“ Nach der Flucht studierte er Orientalistik, wurde ein international anerkannter Experte der mittelalterlichen persischen und arabischen Literatur und leitete bis zur Pensionierung das Institut für Orientalistik an der Princeton University. Nun besucht er, vermutlich zum letzten Mal, Ungarn. Jenes Land, das trotz allem seine Heimat geblieben ist. Mit dabei sind seine Tochter, eine Professorin für Judaistik in New York, sein Schwiegersohn, der streng christlich erzogen wurde und später zum Judentum konvertiert ist. Und seine Frau, die trotz ihrer jüdischen Wurzeln überzeugte Atheistin ist.

Warum mir diese Begegnung wichtig war? Weil in dieser Lebensgeschichte so viel von dem eingeschrieben ist, was jüdisches Dasein prägt: die Grausamkeit der Schoah, die unendliche Geschichte des (Nicht-)Dazugehörens, die Flucht, das Fremde, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, Tradition und Abkehr, Diversität und Miteinander. Wir alle sind, in unterschiedlichsten Gemengen, mehr oder weniger geprägt von diesen Zutaten – gewürzt mit all dem, was wir in unserem persönlichen und kollektiven Gedächtnis mittragen, und getrieben von den vielen Träumen und Wünschen, die wir uns im Laufe des Lebens als Ziele setzen. Wir sind verschieden und doch in einem vermutlich gleich: Wir alle trachten nach Frieden, Liebe, Gesundheit und Glück, unabhängig von Religion, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit. All das fällt mir jetzt ein, da wir im Juni nicht nur den langersehnten Sommer, sondern weltweit auch Pride und damit Diversität und Inklusion feiern. „Vielfalt ist das einzig Wahre, das wir alle gemeinsam haben. Feiern Sie sie jeden Tag“, soll schon Winston Churchill gesagt haben, lange vor den bunten, verrückten Pride-Partys der letzten Jahrzehnte.

Angesichts der Grausamkeit des Krieges gegen die Ukraine, der in gelbe Rauchwolken gehüllten Städte Nordamerikas, angesichts der weltweit erstarkenden rechtspopulistischen Tendenzen und der Herausforderungen, vor die uns die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz stellt, wäre die Einheit in der Vielfalt ein lösungsorientierter Schritt in eine friedliche und lebbare Zukunft für uns und unsere Kinder. Ich wünsche uns daher einen Monat voll angenehmen Sonnenscheins, in dem wir in all unserer Verschiedenheit stolz auf uns selbst sein können. Und natürlich wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen!

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