„Für mich ist Jiddisch A Way of Life“

Von Birobidschan nach Jerusalem. Berl Kotlerman, Autor und Professor für Yiddish Studies an der Bar-Ilan University, will seiner Muttersprache einen Platz in der modernen Welt verschaffen.

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BERL KOTLERMAN 1971 in Irkutsk geboren, wuchs Berl Kotlerman in Birobidschan in der ehemaligen Sowjetunion auf. Nach einem Studium der Journalistik und Jüdischen Studien in Moskau emigrierte er nach Israel. Er ist Professor am Departement of Literature of the Jewish People an der Bar-Ilan University in Jerusalem. Neben vielen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlichte er auch erzählende Literatur auf Jiddisch, unter anderem den Band Samojed. © Konrad Holzer

Wenn Berl Kotlerman Jiddisch spricht, Jiddisch vorliest, dann spürt man den Zauber dieser Sprache, auch wenn man sie nicht versteht. Versteht man sie aber vielleicht sogar, so vermittelt sich ihr unübersetzbarer Geist, ihr „Tam“, ihr Charme und die Weisheit dieser Sprache mit jedem Wort, dem ganz eigenen Tonfall und ihrer Melodie, die eine nahezu vergessene Welt heraufbeschwört.

Das sieht Berl Kotlerman freilich anders. „Für mich ist Jiddisch a way of life“, meint der Professor für Yiddish Studies an der Bar-Ilan University in Jerusalem. Dass er neben seinen vielfältigen wissenschaftlichen Publikationen auf diesem Gebiet auch noch selbst erzählende jiddische Literatur schreibt und nun in seinem Sabbatical von Südamerika bis Montenegro einschlägig unterwegs ist, entspricht seinem Wunsch, „Jiddisch einen Platz in der modernen Welt“ zu verschaffen.

In Wien war es die kleine, feine Buchhandlung von Dorly Singer am Rabensteig, wo Kotlerman gemeinsam mit seinem Übersetzer und Freund Thomas Soxberger Proben aus seinem Erzählband Samojed und dem Romanprojekt Koiderwelsch gab. Das deutsche „Kauderwelsch“ sei, so meint er, keine treffende Übersetzung des Titels. „Koiderwelsch“ sprechen und sprachen die Alten unter anderem im „LeywikHaus“ in Tel Aviv, dem Zentrum für jiddische Autoren und Journalisten, an dem Kotlerman vor 20 Jahren in der Administration tätig war. Die Begegnung mit diesen Menschen war für ihn damals „eine echte Universität“.

„Mameloschn“. Aber wie kommt ein Mann, Jahrgang 1971, überhaupt zu Jiddisch?

Für Berl Kotlerman ist es ganz einfach „Mameloschn“, Muttersprache im wahrsten Sinn. „Ich bin zwar in Irkutsk in Sibirien geboren, aber ich bin ein Birobidschaner, weil ich dort aufgewachsen bin und meine Eltern schon dort aufgewachsen sind, als Kinder von Holocaust-Überlebenden, die nach dem Krieg nach Birobidschan zogen, etwa 1948, 1949, bevor Stalin die jüdische Besiedlung stoppte. Meine Großeltern kamen also schon in die Ruinen dieses Traums.“

Birobidschan ist jene „Jüdische Autonome Oblast“, in der die frühe Sowjetunion Juden ansiedelte und wo mitten im Kommunismus eine Art jiddischer Mikrokosmos entstand, in welchem aber die Religion selbst keine Rolle spielte. Zwar sprach man daheim Jiddisch, aber von den jüdischen Festen und Bräuchen bekam Berl so gut wie nichts mit. Seine Mutter arbeitete als Journalistin für russische und jiddische Medien und gründete später eine eigene Zeitung, Di Woch.

Auch Berl Kotlerman studierte in Moskau zunächst Journalismus, wechselte dann aber zu Jüdischen Studien, was gleichsam zu einer neuen Identität führte, vielleicht war es aber auch umgekehrt.

„Ich hatte keine konkreten Pläne für meine Zeit nach dem Studium, aber dachte immer an eine Tätigkeit für den Birobidschaner Schtern, eine Zeitung, für die ich manchmal schrieb, wie auch für eine jiddisch-russische Zeitung in Moskau. Es war eine interessante Zeit, wegen des Zerfalls der Sowjetunion und den Umbrüchen des Lebens. Wir gründeten eine Art jüdischer Nachrichtenagentur, die sich ‚Eurasia‘ nannte, was meinem Konzept für Juden ohne Grenzen entsprach. Damals lernte ich auch viel über jüdische Gemeinden im sogenannten Fernen Osten, in chinesischen und japanischen Städten. Ich gab zwei Bände akademischer Aufsätze unter dem Titel Mizrech, also ‚Ferner Osten‘ heraus, heute würde ich diesen Terminus nicht mehr verwenden, denn es kommt auf den Standpunkt an: Fern von wo?“

Nachdem er in Moskau zeitweise eine Jeschiwa besuchte, beschloss der 22-Jährige, nach Israel zu gehen. An der Kotel, der Klagemauer, hatte er das Gefühl, „das ist mein Ort“, und so blieb er. Heute trägt der im Kommunismus säkular Erzogene eine Kippa und versteht sich als religiös.

Erst in der Jeschiwa verstand ich, was es bedeutet, ein echter Jude zu sein. Und auch dann, an der Bar-Ilan University, die ein spezielles Konzept hat, das Thora und Wissenschaft an einem Platz vereint. Und auch ich vereine diese beiden Bereiche. Ich studierte Hebräische Literatur und vertiefte mich in Samuel Agnons Schreiben und seine Welt. Für ihn war die Thora etwas Lebendiges, er nahm etwa ein Zitat aus der Thora und machte daraus eine Erzählung. Agnons Muttersprache war Jiddisch, und Spuren davon lassen sich in seiner hebräischen Literatur finden. Aus dieser Entdeckung fand ich den umgekehrten Weg, vom Hebräischen ins Jiddische, das ich natürlich konnte, aber ich hatte nicht gewusst, wie wichtig es war.“

 

„Die Sprache muss sich an die Umgebung anpassen.“
Berl Kotlerman

 

Welcome back. Die im Original jiddisch gesprochene Netflix-Serie Shtisel war ein Welterfolg. Kann man eine Renaissance des Jiddischen beobachten, oder betrifft das nur die Ultraorthodoxen, deren Umgangssprache ja das Jiddische ist? Und wie kann Jiddisch, das ja in keinem Land eine Nationalsprache ist, als Alltagssprache mit den Entwicklungen der modernen Welt Schritt halten?

„Die Sprache muss sich an die Umgebung anpassen, es gibt ja mehrere Sprachen ohne Staat, es ist aber sicher ein Problem, weil es keine entsprechende Infrastruktur für sie gibt. Eine Renaissance sehe ich nicht, aber es gibt generell in der heutigen Welt mehr Möglichkeiten für Minoritäten als zuvor, und das könnte mit ein Grund für jüngere Menschen sein, sich mit jiddischer Kultur zu beschäftigen. Mein Gebiet ist nicht nur jiddische Literaturgeschichte, sondern auch Kultur, Film und Theater. Natürlich unterrichte ich auf Jiddisch und erlebe oft, dass meine Studenten sich nach ein bis drei Jahren selbst auf Jiddisch ausdrücken. Das ist für mich ein Erfolg und ich sage welcome back! Einige ganz junge Leute, die nach ihrer Identität suchen, finden eine spezielle jiddisch orientierte Identität außerhalb der religiösen, eine kulturelle Identität.“

Viele brechen diese Studien auf Grund der schlechten Berufsaussichten aber leider ab, deshalb hat Kotlerman im Vorjahr mit einigen Knesset-Mitgliedern eine Lobby für Jiddisch gestartet, unter anderem mit dem Vorschlag, Jiddisch in Schulen als Teil des außerordentlichen Lehrplans zu unterrichten. Dafür fand er aber keine Unterstützung in der Knesset, auch weil die Regierungen und damit die Ansprechpartner dauernd wechselten.

Familiengeschichten. „Dafür gelang es mir in Buenos Aires, wo es auch eine Zweigstelle des YIVO (Institute for Jewish Research) gibt und sogar Jiddisch sprechende Menschen der zweiten Generation, was sehr selten ist, das dortige jiddische Verlagshaus wiederzubeleben, das schließlich mein Buch Samojed herausbrachte.“

In den zehn autofiktionalen Erzählungen dieses Bandes blickt Kotlerman zurück auf die Welt seiner Kindheit. „Die Helden sind zum Teil Leute aus meiner Familie, die in diesem kleinen Buch leben, ich kann es öffnen und ihnen begegnen.“

Eine reale Begegnung mit seiner Heimat ist zur Zeit schwieriger. Zwar gibt es noch den Birobidschaner Schtern, heute sei die Jüdische Autonome Region aber weder jüdisch noch autonom, nur einzelne alte Menschen sprechen noch Jiddisch. Also eher ein jüdisches Disneyland wie etwa Kazimierz in Krakau?

„Nein, Birobidschan ist in keiner Hinsicht ein Disneyland, es ist kein Ort für Touristen. Ich war vor zehn Jahren das letzte Mal dort und hatte auch Kontakte, die ich aber auf Grund des gegenwärtigen Krieges beendete.“

Erstaunlicherweise ist jetzt aber eine kleine Renaissance der Sprache in Schweden zu beobachten, wo Jiddisch als eine der anerkannten Minoritätensprachen des Landes, neben der Sprache der Roma und der Samen, staatliche Förderung genießt. Dort gibt es sogar eine neue Literaturzeitschrift: Jiddisch Land.

Das literarische Jiddisch ist eine klassische Hochsprache, die sich vom Alltagsjiddisch unterscheidet, quasi das literarische Standard-Jiddisch. „Scholem Alejchem begründete diesen Kanon, und eine neue Generation, die zweite Welle der jiddischen Autoren vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit, der besten Periode der jiddischen Literatur, erweiterte den Kanon. In Wilna gab es das YIVO-Institut, das versuchte, überall gültige Regeln für Jiddisch festzulegen, denn es gab regionale Unterschiede.“

Dass die kleine jiddische Welt, in der Berl Kotlerman lebt und arbeitet, eine Blase ist, ist ihm durchaus bewusst.

„Ja, es ist eine Blase, aber es ist trotzdem eine Art Wirklichkeit. Warum schreiben Sie zum Beispiel für eine jüdische Zeitung? Für mich ist Jiddisch auch eine Verbindung mit Birobidschan und zu meiner Familie, die ich überall hin mitnehme, © Konrad Holzer was mir Freude bereitet.“

 

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