KAFKA in Jerusalem

Sie könnten doch ein Lokal in Tel Aviv eröffnen. Sie wäre die Köchin und er der Kellner, soll er gescherzt haben. Mit seiner letzten Liebe Dora Diamant mag Franz Kafka vor seinem Tod aber auch ernsthafter eine Auswanderung nach Palästina erwogen haben. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit ist 2016 zumindest ein wesentlicher Teil seiner Manuskripte aus dem Nachlass des Freundes Max Brod in der National Library of Israel in Jerusalem gelandet. Wie es dazu kam und welche neuen Aspekte auf Kafkas Leben und Werk sich dadurch eröffnen, davon erzählt der amerikanisch-israelische Kulturjournalist Benjamin Balint in seiner literarischen Reportage Kafkas letzter Prozess. Und in einem thematisch weit gespannten Gespräch unter anderem auch über seinen persönlichen Weg zur Welt von Kafka, Brod und Bruno Schulz und die Pläne für das soeben angebrochene Kafka-Jahr.

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© Ullstein Bild / picturedesk.com

Hätte es das Massaker am 7. Oktober nicht gegeben, wäre Benjamin Balint jetzt wohl in Jerusalem mit den Vorbereitungen rund um den 100. Todestag Franz Kafkas am 3. Juni beschäftigt. So aber hat der hochgewachsene 47-jährige Literaturwissenschaftler Zeit für ein Treffen im Wiener Café Prückl, bevor er seine kleine Tochter aus dem Montessori-Kindergarten abholt. Bereits kurz nach dem Schreckenstag, der alles veränderte, sind er und seine österreichische Frau mit dem Kind hergekommen, möglichst bald aber will die Familie zurück nach Jerusalem, das seit knapp 20 Jahren Balints Lebensmittelpunkt ist.

In den USA „modern orthodox“ erzogen, gab es familiär immer schon enge Beziehungen zu Israel, wo sich seine Eltern in einem Kibbuz kennengelernt hatten. Seine Mutter ist in England als Tochter deutscher Emigranten geboren, sein Vater in Amerika. Als Benjamin schließlich 2004 nach Israel ging, besuchte er zunächst zwei Jahre lang eine Jeschiwa, bevor er an der Jerusalemer Al-Quds University als einziger Jude palästinensische Studenten unterrichtete. „Weltliteratur vom Gilgamesch-Epos bis Franz Kafka.“

Womit wir thematisch wieder bei Kafka und in Wien gelandet wären, wo Balint seine tief liegenden Wurzeln freilegt.

„Mein Ururgroßvater kam aus Galizien nach Wien und starb hier 1917. Es war sehr bewegend, jetzt sein Grab am Zentralfriedhof aufzufinden. Galizien hat mich abseits dieser familiären Beziehungen aber auch literarisch immer interessiert. Innerhalb enger geografischer Grenzen gab es dort in einer Generation ganz verschiedene jüdische Schriftsteller, die aus dem Humus des versinkenden Habsburgerreichs schöpften. Bruno Schulz, der polnisch schrieb, Samuel Agnon, der hebräisch schrieb und den deutsch schreibenden Joseph Roth. Und in einem anderen Teil des Reiches natürlich Kafka.“

Jerusalems Erbe. Die Frage, wie und warum diese Diaspora-Autoren viele Jahrzehnte nach ihrem Tod von Israel als Teil der jüdischen Kultur vereinnahmt wurden, ihr Erbe demgemäß Jerusalem gehören sollte, führte Balint zu seinem Buch Kafkas letzter Prozess. Es beschreibt den langen juridischen Kampf, um Kafkas Manuskripte aus dem Nachlass Max Brods an die Nationalbibliothek in Jerusalem zu bringen.

Vor seinem Tod hatte Kafka seinen Freund Brod angewiesen, alle seine Manuskripte zu verbrennen. Entgegen diesem letzten Willen rettete Brod diese aber nicht nur vor dem Feuer, sondern auch vor den Nazis, indem er sie 1939 von Prag ins damalige Palästina mitnahm. Brod wiederum schenkte bzw. vermachte sie seiner Mitarbeiterin Esther Hoffe, die nach seinem Ableben Teile davon verkaufte, über Umwege gelangte so das wertvolle Manuskript Der Process ans Deutsche Literaturarchiv in Marbach. Als letzte Erbinnen strengten Hoffes Töchter einen Prozess gegen die Israelische Nationalbibliothek an, den das Oberste Gericht 2016 schließlich zugunsten Jerusalems entschied.

„Finanzminister Bezalel Smotrich wollte das Budget der Universitäten für die Geisteswissenschaften und Künste kürzen.“
Benjamin Balint

Eine andere Kontroverse entzündete sich 2001, als der Mossad die letzten Wandmalereien von Bruno Schulz in einer Nachtund-Nebel-Aktion aus einer Villa im heute ukrainischen Drohobycz herausschmuggelte und nach Yad Vashem brachte.

„In beiden Fällen geht es um Schriftsteller, die Israel nie betreten hatten, die starben, bevor es einen Staat gab; und trotzdem gab es die Meinung, dass Jerusalem quasi die Verbindung und das Ende dieser Diaspora-Geschichten sein sollte.“

Franz Kafka, der längst Weltgeltung hatte, war in Israel weit weniger bekannt als Max Brod, keine Straße ist dort nach ihm benannt, und lange gab es keine hebräische Gesamtausgabe. Das führt Balint einerseits auf eine Ablehnung der deutschen Sprache nach dem Krieg zurück, ideologisch aber auch darauf, dass Kafkas Literatur im Gegensatz „zu den zionistischen Idealen der starken Söhne schwache Diaspora-Söhne mit starken Vätern zeigt“.

Auf die später größere Akzeptanz deutscher Kultur folgte die bis heute andauernde Phase, nachdem das gesamte Material aus Brods Nachlass in Jerusalem zum ersten Mal geöffnet wurde. Welche neuen Aspekte sich daraus ergeben, diese Frage verfolgt Balint im Epilog der neuen im Fischer Verlag erscheinenden TaschenbuchAuflage seines Kafka-Bandes.

Benjamin Balint. Eigentlich sollte der Literaturwissenschaftler in Israel an einer
Kafka-Schau arbeiten. Der 7. Oktober hat auch sein Leben gänzlich verändert. © privat

„Das jetzt enthüllte Material wirft ein neues Licht auf Kafka und Brod und ihre Freundschaft, wir haben nun etwa 100 Zeichnungen und Skizzen von Kafka, die vor Kurzem veröffentlicht wurden. Und auch etliche vorher noch nie eingesehene Bände von Brods Tagebüchern, zurückgehend auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, mit unglaublich viel Material über diese Freundschaft, aber auch über Brods Zionismus, über die Prager zionistischen Kreise und andere Figuren ihres Kreises. Zum Beispiel kontaktierte mich die Biografin von Dora Diamant, der letzten Geliebten Kafkas, mit der er in Berlin gelebt hatte, und kam mit zwei Nachfahren Diamants nach Jerusalem. Im Keller der Bibliothek holte der Archivar einen Teil von Brods Tagebüchern heraus, in denen er über Dora schreibt, unter anderem mit einem Brod gewidmeten Foto Doras mit ihrer eigenen Handschrift, die ihre Nachfahren noch nie gesehen hatten. Es tauchen also alle möglichen neuen Dinge auf, die unsere Sicht auf Kafka verändern, aber hoffentlich auch ein neues Interesse an Brod wecken werden, der in seiner zweiten Lebenshälfte von 1939 bis zu seinem Tod in Israel eine erstaunliche Karriere hatte. Er war damals auch Dramaturg am HabimaTheater und erweiterte generell das dramatische Repertoire in Israel.“

„Das jetzt enthüllte Material wirft ein neues Licht auf
Kafka und Brod und ihre Freundschaft.“
Benjamin Balint

Beide Kontrahenten, das Literaturarchiv in Marbach und die Nationalbibliothek in Jerusalem, waren vor Prozessende überein gekommen, das Material jedenfalls zu digitalisieren und der Wissenschaft zugänglich zu machen, was zurzeit in Jerusalem gerade geschieht.

„Auf meine Frage, warum es im digitalen Zeitalter überhaupt einen Unterschied mache, wo die Manuskripte physisch lagern, antwortete der damalige Direktor des Marbacher Archivs, Ulrich Raulff, wenn die Manuskripte in Jerusalem lägen, würde Kafka im engen Sinn als jüdischer Schriftsteller gelesen werden. In Marbach hingegen würde er in einem ganz universellen Sinn als Humanist gelesen werden. Womit er zu meinem Erstaunen wohl meinte, dass Deutschland nun den universellen Humanismus repräsentiere, während die Israelis engstirnig seien.“

Kafka, in dessen gesamtem Werk das Wort Jude nicht ein einziges Mal vorkommt, soll in seinen letzten Jahren Hebräisch gelernt und mit Dora Diamant sogar eine Auswanderung nach Palästina erwogen haben. Die amerikanisch-jüdische Autorin Nicole Krauss lässt in ihrem Roman Waldes Dunkel Kafka gar in der judäischen Wüste enden. Wird dieser jüdische Aspekt angesichts des Materials auch wissenschaftlich vermehrt in den Fokus rücken?

Jüdischer oder „universeller“ Autor? Die Argumente, wo Kafkas Nachlass bleiben sollte, nehmen teils erstaunliche Formen an. © Everett Collection / picturedesk.com

„Wir müssen unterscheiden zwischen Kafkas tiefem Interesse für die Sprachen Hebräisch und Jiddisch und der Frage nach seinem Zionismus. Im Nachlass findet sich zum Beispiel sein Hebräisch-Vokabelheft und ein Brief an seine Hebräisch-Lehrerin in Prag, in dem er sich in perfektem Hebräisch dafür entschuldigt, seine Hausaufgabe nicht gemacht zu haben. Mit Dora erwog er sogar scherzhaft, ein Lokal in Tel Aviv aufzumachen; sie wäre der Koch und er der Kellner. Es gibt eine Tradition fiktiver Spekulationen darüber, was gewesen wäre, wäre Kafka nicht so jung in Kierling an Tuberkulose gestorben und nach Palästina gekommen. 1924, nach Kafkas Tod, hat Max Brod selbst ein solches Buch geschrieben.“

Israel hatte für das Jubiläum des 100. Todestags bereits viele Pläne; so sollte es eine große Kafka-Ausstellung im neuen Bibliotheksbau in Jerusalem geben; doch dies wie auch das glanzvolle Opening des spektakulären Gebäudes im vergangenen Oktober mussten natürlich abgesagt werden. „Eine ganze Reihe von wertvollen Schätzen der Sammlungen, die für die Eröffnungsausstellung der Bibliothek gezeigt werden sollten, mussten die Kuratoren, als am 7. Oktober die Sirenen heulten, raschest in einem Bunker in Sicherheit bringen. Es soll jedoch im März eine große Kafka-Konferenz in Jerusalem geben, und mein Buch soll auf Hebräisch erscheinen.“

Bruno Schulz. Benjamin Balints allerneueste Publikation ist aber Bruno Schulz gewidmet, der viele thematische und biografische Parallelen zu Kafka aufweist und in Polen oft sogar als der polnische Kafka bezeichnet wird. Gemeinsam mit seiner damaligen Verlobten Jozefina Szelinska hat Schulz auch die erste Übersetzung von Kafkas Prozess ins Tschechische gemacht, die bis heute als „der diesbezügliche Goldstandard“ gilt.

Hat also wiederum Kafka den Literaturwissenschaftler weiter zu Bruno Schulz geführt?

„Mein Schulz-Buch ist auf mein generelles Interesse an der jüdischen Kultur Galiziens und dessen spirituellem Erbe zurückzuführen. Schulz verbrachte übrigens das letzte Jahr des Ersten Weltkriegs als Flüchtling hier in Wien, und ich habe seinen Wohnort auf der Rossauer Lände gefunden. Außerdem traf ich hier vor einigen Jahren den Sohn eines Überlebenden aus Schulz’ Heimatstadt Drohobycz, die ich 2020 besuchte. Er erzählte mir die Geschichte seines nach Israel emigrierten Vaters, der 1961 als Zeuge im Prozess gegen den österreichischen SS-Offizier Felix Landau, der Bruno Schulz verfolgte und versklavte, aussagen musste. Es stellte sich heraus, dass viele Dokumente und Protokolle der Zeugenaussagen des Prozesses im Stadtarchiv im Wiener Gasometer gelandet waren, wo ich dann viele Stunden verbrachte. Felix Landau war einer der führenden Funktionäre der Arisierungsstelle in Wien unter Eichmann. Offenbar wurde er von seinen SS-Kollegen selbst weit weg nach Drohobycz geschickt, wo er sich General der Juden nannte und diese sehr eigenartige Beziehung zu Schulz entwickelte, indem er ihn zu seinem Privat-Juden machte und ihn seine ‚arisierte‘ Villa ausmalen ließ. Schulz hatte in seiner frühen Kunst jüdisch-masochistische Züge und traf auf den sadistischen Wiener SS-Mann.“

Tektonische Veränderungen. Was erwartet Benjamin Balint nach seiner Rückkehr in Israel? Gibt es nach der Zeitenwende des 7. Oktobers dort nicht andere Prioritäten als akademische Fragen über Kafka und Schulz?

„Vor Kurzem wollte Finanzminister Bezalel Smotrich das Budget der Universitäten für die Geisteswissenschaften und Künste kürzen und stellte die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit. Ich halte das für einen großen Fehler, denn die Geschichten von Schriftstellern wie Kafka und Schulz können das kulturelle Selbstverständnis des Staates und auch die neue Krise zwischen Israel und der Diaspora beleuchten.“

Die schwindende Unterstützung für Israel konnte Balint auf seiner Lesereise, die ihn diesen Oktober an drei amerikanischen Universitäten inklusive Harvard führte, selbst beobachten.

„Da gibt es eine Art tektonischer Veränderung, die ich spüren konnte. Bei einem meiner Vorträge wurde uns ein bewaffneter Polizist in Zivil beigestellt, und als ich anmerkte, ich spreche über Bruno Schulz, der nichts mit Israel zu tun hat, entgegnete man mir, die aktuelle Atmosphäre erfordere bei allem, das mit der Abteilung jüdischer Studien zu tun hat, eine solche Bewachung. Man kann die Geschichte von Schulz nicht erzählen, ohne die Brutalität des Genozids an den Juden zu erwähnen, aber darüber kann man jetzt nicht sprechen, ohne als parteiisch für eine Seite des israelisch-palästinensischen Konflikts wahrgenommen zu werden. Und das ist Teil der momentanen Campus-Atmosphäre. Die Fragen der Zugehörigkeit, die den Kern der Literatur von Kafka und Schulz berühren, sind mir daher besonders wichtig.“

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