Rudolf Taschner: „Das Unendliche ist faszinierend“

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Rudolf Taschner hat die Mathematik in den vergangenen Jahren in Österreich populär gemacht. wina sprach mit ihm über die Mathematik als Geisteswissenschaft und warum es unter den Nobelpreisträgern so viele Juden gibt. Von Alexia Weiss

wina: Können Sie sich an den Moment erinnern, in dem Sie das Mathematik-Fieber gepackt hat?

Rudolf Taschner: Ja – das war ganz skurril. In der siebenten Klasse haben wir einen relativ jungen Französischlehrer bekommen, und er hat gesagt, jetzt könnt ihr schon ganz gut Französisch, jetzt könnt ihr auch einmal ein Referat halten über ein Thema, über das ihr sprechen wollt. Damals kam in einem anderen Zusammenhang die Frage nach den quadratischen Gleichungen auf, unter deren Wurzel eine negative Zahl steht, und ich habe dazu eine kleine Idee entwickelt und mir gedacht, das werde ich in Französisch vortragen. Mein Kalkül war, der Lehrer versteht nichts, das Vokabular ist relativ gering – das geht sicher gut.

Ich hab das dann frei vorgetragen, und er war total beeindruckt und begeistert. Das Französisch war holprig bis dorthinaus, aber er hat mir ein Sehr gut darauf gegeben. Daraufhin habe ich für mich erklärt, jetzt kann ich Mathematik. Das war natürlich ein großer Blödsinn, aber ich habe gesehen, damit kann man Eindruck schinden.

Das große Interesse galt aber zunächst der Physik, weil ich das Gefühl gehabt habe, das ist die Wissenschaft, die die Basis der Welt erklärt, das Fundament, auf dem wir leben, das alles zusammenhält. Aber die Physik erklärt nicht die Welt, sondern die Mathematik – und dann bin ich bei der Mathematik hängen geblieben.

Wie hat Ihre wissenschaftliche Karriere in der Mathematik begonnen?

Durch Zufall – durch einen Lehrer, der mich gefördert hat. Ich habe ein Skriptum geschrieben von einer Spezialvorlesung, mit vielen Zeichnungen, und er war so begeistert, dass er meinte, er würde mir auch gerne eine Dissertation geben. Damals hat man ja einfach nur studiert. Heute hat man Pläne vor sich.

Das war also keine Scheine-Uni wie heute.

Ja. Das war eine völlig freie Universität.

Ist es essenziell für den Erfolg in der Wissenschaft, im Studium gute Lehrer zu haben?

Ja, Lehrer sind sehr wichtig. Ich glaube, dass Lehrer prägend sind, wie man später arbeitet. Ich habe ein bisschen Wissenschaft betrieben, aber ich publiziere nicht viel, wenn dann Lehrbücher. Ich schreibe derzeit zum Beispiel an einem Lehrbuch, das natürlich auch Dinge enthält, die man bisher nirgends findet, sonst wäre das ja nur ein Umschreiben.

Sie haben Ihren Schwerpunkt auf das Thema Vermittlung gelegt?

Ja. Von Anfang an.

Was ist das Faszinierende an Zahlen?

„Welche Botschaft versteht der Bewohner des Asteroiden B 612, wenn wir nicht einmal wissen, ob er ein Herz hat oder zwei Arme?“

An Zahlen ist überhaupt nichts faszinierend. Sie können aber zum Faszinierenden hinführen. Das Unendliche ist faszinierend. Zahlen sind einfach da. Sieben aus mathematischer Sicht ist eine sehr einfache Angelegenheit. Sieben ist sieben. Manche meinen, dass sieben vielleicht auch eine mystische Komponente hat. Das gibt es schon. Aber mathematisch hat die Zahl überhaupt keine besondere Bedeutung. Das eine ist die Mathematik, das andere die Gematria, dann gibt es die Philosophie, den Symbolismus. Das will ich nicht schlecht machen – aber das hat mit Mathematik nichts zu tun.

Ist Mathematik, das Zahlensystem eine Art Sprache?

Es ist so: Wenn wir irgendwann Kontakt haben werden mit dem Bewohner des Asteroiden B 612 (Der kleine Prinz, Anm.), dann werden wir zunächst in Funkkontakt treten. Aber was könnten wir ihm funken? Welche Botschaft könnten wir ihm mitteilen? Welche Botschaft versteht der Bewohner des Asteroiden B 612, wenn wir nicht einmal wissen, ob er ein Herz hat oder zwei Arme? Wir wissen nicht, ob er flüssig oder ein Gaswesen ist. Aber wir können ihm piepen: piep, piep – piep, piep, piep – piep, piep, piep, piep, piep – dann sieben, elf, 13 und so weiter. Dann weiß er, aha, da funkt mir jemand die Primzahlen. Primzahlen sind universell, sie haben die Eigenschaft, dass sie durch keine Zahl als eins und sich selbst geteilt werden können. Insoferne kann man eine Unterhaltung damit beginnen – aber es ist ein wenig einsilbig.

„Mathematik ist keine Naturwissenschaft. Mathematik ist eine Geisteswissenschaft.“

Der Mathematiker Hans Freudenthal hat 1960 eine auf der Mathematik basierende Sprache entwickelt, er hat sie Lingua Cosmica genannt. Aber Mathematik ist etwas anderes als Sprache. Musik ist auch nicht Sprache. Sprache hat eine andere Funktion als Musik.

In Österreich ist es ja so: Menschen, die sich nicht der Naturwissenschaft zugewandt haben, haben meist mit Mathematik nichts am Hut …

Mathematik ist keine Naturwissenschaft. Mathematik ist eine Geisteswissenschaft.

An der Universität wird die Mathematik aber den Naturwissenschaften zugeordnet.

Ja, weil sie den Naturwissenschaften so sehr hilft. Weil sie die Naturwissenschafter so brauchen wie die Geisteswissenschafter die Sprache. Eine Naturwissenschaft zeigt sich auch darin, dass ich ein Naturgesetz erkenne. Es gibt kein mathematisches Naturgesetz. Die mathematischen Gesetze sind axiomatisch begründet (etwas, das beweislos vorausgesetzt wird, Anm.). Dass durch zwei Punkte nur eine Gerade laufen kann, das ist evident. Das kann ich nicht tiefer erklären. Oder ein Axiom ist eine pure Setzung. Ich setze, dass es so sein soll. Aber beides ist ein Geistesprodukt, und alles, was herauskommt, ist ein Geistesprodukt.

Mathematik ist also näher der Philosophie als der Naturwissenschaft?

Ja, viel näher. Aber die Philosophen haben es noch nicht so wirklich drauf. Es gab ja analytische Philosophen, gerade hier in Wien. Begonnen hat es mit Wittgenstein, dann hat sich der Wiener Kreis gebildet. Da waren auch viele jüdische Leute dabei. Sie haben gemeint, alles, was man in der Philosophie sagen kann, muss einen mathematischen Grund haben, also positivistisch sein. Das hat nicht ganz geklappt. Aber man sollte in der Mathematik Konzepte finden, die philosophisch untersucht werden. Das gab es schon. Es gibt dazu ein großes Buch meines mathematischen Idols Hermann Weyl. Die Mathematik könnte den Philosophen einiges bieten, wo sie Konzepte weiterentwickeln könnten – aber das wurde hier noch nicht so aufgenommen.

In Großbritannien kann man aber zum Beispiel diese Kombination studieren.

Ja, international schon.

Ist es aber nicht symptomatisch für die grundlegende Einstellung gegenüber der Mathematik in der Gesellschaft, dass in Österreich von der Philosophie keine Annäherung kommt?

Die trauen sich vielleicht noch gar nicht richtig, mit der Mathematik in Kontakt zu treten. Ich war einmal eingeladen beim Philosophicum Lech, da ging es um das Glück aus mathematischer Sicht, da hat es Berührungspunkte gegeben. Ich kenne Konrad Paul Liessmann ganz gut, er hat einen guten Sensus dafür – er weiß, wie das funktionieren könnte. Aber irgendwie glaube ich, dass die Mathematiker nicht für die dafür nötige Sprache zu haben sind.

Allerdings, mit der richtigen Sprache die Sachen auf den Punkt zu bringen, dadurch würde man eine Erhellung der Dinge erzielen. Das versuche ich zum Beispiel mit dem Lehrbuch zu machen, das ich gerade schreibe. Es ist ein Lehrbuch für Ingenieurstudenten – auch Ingenieure müssen Mathematik machen. Für sie ist das die Geisteswissenschaft. Als Ingenieure werden sie die Welt gestalten. Das breite Wissen dafür bekommen sie von der Mathematik. Durch die Mathematik ist der Ingenieur ein gebildeter Mensch. Daher erkläre ich den Ingenieurstudenten auch, woher Begriffe kommen – das ist Kulturgeschichte. So bekommen die Begriffe Farbe. Und das hilft den Menschen auch, die Begriffe in sich aufzunehmen.

Oft ist es ja aber so, dass Eltern, die in der Schule negative Erfahrungen mit dem Gegenstand Mathematik gemacht haben, ihren Kindern keine positive Einstellung zu diesem Fach vermitteln können. Was kann man tun, um diesen Kreislauf zu durchbrechen?

Es geht darum, wie die Schulmathematik gestaltet wird. Und ich fürchte, dass es nicht so lustig ausschaut. Ich glaube, dass mit der Zentralmatura das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Da werden Kompetenzen geprüft. Man lernt, was man geprüft wird, man kann, was man gelernt hat. Da prüft man aber nur, ob man fleißig oder weniger fleißig war. Es geht nicht ums Verstehen. Und das ist so schade. Man sollte das Rechnen lernen, aber auch das Verstehen – dann kann ich auch Querverbindungen ziehen. Das wäre das Spannende in der Schule. Vielleicht haben die Lehrplangestalter aber auch Angst, dass das die Lehrer nicht zustandebringen.

In Österreich gibt es, was Naturwissenschaften und Technik betrifft, immer noch den gender gap.

Rudolf Taschner:  Die Zahl, die aus der Kälte kam. Wenn Mathematik zum Abenteuer wird. Carl Hanser Verlag 2013;  244 S.,  21,90 EUR
Rudolf Taschner:
Die Zahl, die aus der Kälte kam. Wenn Mathematik zum Abenteuer wird. Carl Hanser Verlag 2013;
244 S., 21,90 EUR

Bei den Elektrotechnikern ist es natürlich so. Früher hat es praktisch keine Frauen gegeben. Jetzt studieren ein paar Frauen und die sind dann auch sehr begabt, sehr engagiert, sehr ehrgeizig. In der Mathematik gibt es schon viel mehr Frauen, die meisten studieren aber Lehramt.

Ich meine, es ist schon so: Es ist für die Mathematik ganz gut, wenn man ein räumliches Verständnis entwickelt. Da dürfte, glaube ich, die Steinzeit, wo die Männer gejagt haben, während die Frauen zu Hause geblieben sind, die Männer evolutionär bevorzugt haben. Ich habe nichts dagegen, wenn man sagt, ja, grosso modo ist die Sprache bei den Frauen besser entwickelt und das räumliche Verständnis bei den Männern. Das ist keine Diskriminierung. Denn es ist nur grosso modo. Für den Einzelfall ist es völlig unpassend. Es gibt keinen Grund, dass man ein Mann sein muss, um Mathematik zu verstehen. Aber wenn Wissenschaft männlich dominiert ist, bekommt sie in ihrem Duktus eine männliche Note. Wenn hier mehr Frauen involviert wären, würde das der Mathematik also sicher nicht schlecht tun.

Judentum und Zahlen: Da fällt einem sofort die Kabbala ein. Können Sie damit etwas anfangen?

Gematria. Da gibt es eine Stelle bei Abraham, da steckt die Zahl 318 drinnen. Da sieht man, dass mit den Buchstaben und Zahlen gerne gespielt wird. Das ist schon sehr interessant. Warum beginnt Bereschit mit Bet und nicht mit Alef? Das hat natürlich eine gewisse Bedeutung. Dazu kann man sich viele Gedanken machen. Die Schwierigkeit ist aber: Jeder liegt richtig, und jeder liegt falsch. In der Mathematik ist das anders. Ich will aber nicht leugnen, dass es da etwas Faszinierendes gibt.

Sie haben sich also einige Zeit damit ausei­nandergesetzt?

Ein paar Minuten (lacht).

Das andere, was einem bei Juden und Mathematik, Naturwissenschaften einfällt, sind die vielen Nobelpreisträger. Warum gibt es so viele jüdische Nobelpreisträger?

Ich meine, wenn ich mit drei Jahren anfange, das Alef Bet zu lernen, da bin ich schon bevorzugt. Ich habe eine Dame gekannt, Lehrerin, sehr gescheite Frau, mit diesem widrigen alten Wiener Antisemitismus angekränkelt, und sie hat gesagt, ja, die Juden, ganz klar, wenn man mit drei Jahren anfängt zu lernen, dann haben sie Vorteile uns gegenüber. Ich meine, statt dass die Leute sagen, das machen wir auch so, sind sie eher neidisch.

Und dann: Wenn mir nichts anderes übrig bleibt in meiner Tradition als das Buch, dann kann man das nicht ausradieren. Das muss man sich vorstellen – im Katholischen war das Lesen der Bibel verpönt. Das Lesen war verpönt!

Weil man die Massen dumm halten wollte.

„Es gibt gewisse Momente des Daseins, wenn man da nicht irgendwie den Ewigen spürt, ist es fast Sünde.“

Ja, man wollte sie gefügig halten. Aber ehrlich gesagt: Das hat auch sein Gutes. Die Leute sind ganz glücklich, wenn sie nicht alles wissen. Wenn man liest, ist plötzlich alles nicht mehr so einfach. Das ist vielleicht nicht so angenehm. Ich will niemanden verurteilen, aber das ist so.

Viele Nobelpreisträger sind zwar jüdisch – leben aber säkular. Vertragen sich Religion und Wissenschaft nicht?

Ich habe auch schon einen frommen Nobelpreisträger kennen gelernt, Robert Aumann, für Wirtschaftswissenschaften. Es gibt also auch ganz Fromme.

Wie ist das bei Ihnen? Wie halten Sie es mit der Religion?

Ich bin ja kein Nobelpreisträger (lacht). Aber – was meine Haltung anlangt, ich kann sie schon andeuten. Wenn es ein Symbol gibt, dann gibt es einen Zusammenhang. Den einen Zugang zum Symbol kenne ich, aber wenn es nur diesen einen Zugang gäbe, gäbe es das Symbol nicht. Also ich glaube daran, aber ich spreche nicht darüber. Das Mystische zeigt sich – nur weil man darüber nicht sprechen kann, ist es noch immer da. Es gibt gewisse Momente des Daseins, wenn man da nicht irgendwie den Ewigen spürt, ist es fast Sünde. Dann hat man etwas versäumt.

Sie würden sich also als gläubig bezeichnen?

Ja. Ja!

Sie sind demnach nicht davon überzeugt, dass es Gott nicht gibt?

Davon bin ich überhaupt nicht überzeugt. Die davon überzeugt sind, verstehe ich nicht. Und: Ich bin neugierig.

ZUR PERSON
Rudolf Taschner, geboren 1953 in Ternitz, Niederösterreich. Matura am Theresianum in Wien, Mathematik- und Physikstudium an der Universität Wien. Seit 1977 an der Technischen Universität (TU) Wien tätig (dazwischen Aufenthalt in Stanford), inzwischen Professor der Mathematik. Mit seiner Frau Bianca und Kollegen der TU betreibt er den math.space, einen Veranstaltungsort im Museumsquartier, an dem Mathematik publikumsnah vermittelt wird. 2004 zum Wissenschafter des Jahres gewählt, 2007 zum Kommunikator des Jahres. Autor mehrerer Bücher – zuletzt erschien Die Zahl, die aus der Kälte kam. Taschner lebt in Wien und ist Vater zweier Kinder.
© apa picturedesk/Julia Stix

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