Victor Gruen und die autofreie Wiener Innenstadt

In den USA machte sich der Stadtplaner und Architekt Victor Gruen als Begründer der Shopping Malls einen Namen. Im Juli 1903 in Wien als Victor David Grünbaum geboren, musste er 1938 im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten emigrieren. Seine Geburtsstadt verdankt ihm die Fußgängerzone in der Kärntner Straße.

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Die Kärntner Straße: 1974 wurde zwischen Oper und Stephansplatz die erste Wiener Fußgängerzone eröffnet (oben). Davor hatten sich hier täglich Tausende Autos durch die Straße bewegt (unten: 1962). © Votava / brandstaetter images / picturedesk.com

Die Verbannung des Individualverkehrs aus dem innersten Teil der Wiener City wurde 1974 nicht von allen begrüßt. Kritikern hielt Gruen entgegen: „Autos kaufen nichts.“ Unrecht wird ihm postum allerdings getan, wenn man ihm vorwirft, sowohl mit dem Konzept des Einkaufszentrums wie auch mit Fußgängerzonen den Konsum in den Mittelpunkt gestellt haben zu wollen. Was heute stadtplanerisch State of the Art ist, trieb Gruen schon vor mehr als 50 Jahren um: Der Umweltgedanke einerseits, autofreie öffentliche Lebensräume für den Menschen andererseits.

Faszinierend ist allerdings aus heutiger Sicht, wenn man sich ansieht, was Gruen in seinem Stadterneuerungsplan für die Wiener Innenstadt noch alles vorgeschwebt war – umgesetzt wurde davon nur ein kleiner Teil. In seinen kurz vor seinem Tod 1979 verfassten Memoiren, die 2014 von Anette Baldauf unter dem Titel Shopping Town im Böhlau Verlag herausgegeben wurden, umriss der Stadtplaner die Ausgangslage so: „Das Kerngebiet Wien ist identisch mit dem ersten Wiener Gemeindebezirk, aber auch mit dem ältesten Teil der Stadt, wie er bis 1860 mit Festungsmauern und Stadttoren umgeben war. Die ursprüngliche Einwohnerschaft von über 100.000 war auf 25.000 zurückgegangen. Der frei gewordene Raum war durch Geschäftshäuser, Gewerbebetriebe und Büros übernommen worden. Im Kerngebiet befinden sich aber auch die bedeutendsten öffentlichen Gebäude wie Museen, Burgtheater, Staatsoper, Konzertsäle, die schönsten Kirchen, die Ministerien sowie das Hauptgebäude der Universität. Einkäufern und Besuchern stehen hunderte von kleineren und mittleren Geschäften sowie eine sehr große Anzahl von Gaststätten zur Verfügung.“

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Dadurch seien die Voraussetzungen der Multifunktionalität bereits gegeben gewesen. „Ihre Nutzung jedoch litt darunter, dass das engmaschige, unregelmäßige, spinnennetzartige System von kleinen Straßen, Gassen und Plätzen mit Personenautos und Lastkraftwagen derart überlastet war, dass Verkehrsverstopfungen zur Regel wurden und der Fußgängerverkehr ernstlich gefährdet wurde.“ Die damit einhergehende Lärmund Abgasbelästigung würde Einwohner, aber auch Käufer und Besucher vertreiben, lautete Gruens Befund.

 

„Alle Maßnahmen, die ich vorschlug und die darauf
hinausliefen, die Stadt menschengerecht zu gestalten, stießen nicht nur auf völliges Unverständnis der Planungsbürokratie, sondern auf offenen Widerstand“
Victor Gruen

 

In einer 1971 vorgelegten Studie entwarf er einen Maßnahmenplan für die Attraktivierung der Wiener Innenstadt, die aus heutiger Sicht als visionär bezeichnet werden kann. „Das Ziel des Konzeptes war es, durch die Reinhaltung der Luft, die Verringerung des Lärms und durch zusätzliches Grün die Umweltbedingungen derart zu verbessern, dass das Kerngebiet als lebenswertester Bereich der Stadt sowohl als Wohnort als auch als Besuchsort wieder größere Anziehungskraft ausüben würde.“

Gruens konkrete Vorschläge: „Die Erschließung der Innenstadt durch neue Untergrundbahnlinien, der völlige Ausschluss des benzingetriebenen Fahrzeugverkehrs sowie Ersatz der üblichen Einzelheizmethoden durch Fernheizmethoden.“ Lagerhäuser, Speditionen und Industriebetriebe sollten in andere Teile Wiens umgesiedelt und auf den dadurch frei gewordenen Flächen Wohnungen errichtet werden. Die gesamte Innenstadt sollte durch eine kreisförmige Umfahrungsstraße – den Ring – „als Umweltoase gestaltet werden“. Auch an Details hatte Gruen gedacht: Wie etwa konnte aus dieser völlig autofreien Innenstadt der Müll entsorgt werden? Seine Antwort: mit der U-Bahn.

Als Victor David Grünbaum in Wien geboren, machte sich der Architekt und Stadtplaner auch als politischer Kabbaretist einen Namen. 1938 wurde er enteignet und floh in die USA.

Die Reaktion der Stadt war – Blockade: „Alle Maßnahmen, die ich vorschlug und die darauf hinausliefen, die Stadt menschengerecht zu gestalten, stießen nicht nur auf völliges Unverständnis der Planungsbürokratie, sondern auf offenen Widerstand.“ Dennoch wurden schließlich Teile von Gruens Planungen umgesetzt: Dazu gehörte die U-Bahn, die in die Innenstadt führte (diese wurde von der Stadt bereits seit Ende der 1960er-Jahre geplant und schließlich 1978 eröffnet), die Umwandlung einiger Straßenzüge in eine Fußgängerzone sowie die Einrichtung von Diesel-Minibussen in der City. Ein Beamter in der Magistratsabteilung für Stadtplanung habe ihm diese Vorgangsweise so erklärt: „Wir wissen, Herr Architekt, dass das, was Sie vorgeschlagen haben, in seiner Ganzheit notwendig sein wird, aber wir fürchten uns davor, die Wähler zu erschrecken, und gehen daher nach der Salami-Taktik vor.“

Heute möchte man sagen: Da hat man sich eine Riesensalami vorgenommen. Auch wenn die Fußgängerzone inzwischen gewachsen und um das Konzept der Begegnungszone (etwa in der Rotenturmstraße) erweitert wurde, wenn mancher Platz inzwischen mit einer Tiefgarage weitgehend vom Verkehr befreit und zu einem Verweilort umgestaltet wurde (wie der Neue Markt), ist die Wiener City immer noch nicht autofrei.

Victor Gruen war seiner Zeit weit voraus. Bereits 1968 gründete er in Los Angeles das Center for Environmental Planning. Eine kleine Gruppe von „Rufern in der Wüste“ sei man damals gewesen, hielt Gruen in seinen Erinnerungen fest. 1973 begründete er in Wien das Zentrum für Umweltplanung. Ende der 1970er-Jahre seien Umweltfragen dann bereits medial breit thematisiert worden, Umweltparteien waren im Entstehen, hielt Gruen kurz vor seinem Tod fest. Und bilanzierte, durchaus mit ein bisschen Stolz: „Zusammenfassend glaube ich, zu der Aussage berechtigt zu sein, dass die Bemühungen der Zentren für Umweltplanung dazu beigetragen haben, diese Entspannung herbeizuführen und dass sich in diesem Sinn vielleicht doch alle Mühe gelohnt hat.“ Victor Gruen starb 1980 in seiner Geburtsstadt Wien.

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