Wahrscheinlichkeitsrechnungen in Zeiten des Terrors

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Ich war noch nie gut in Mathematik. Dass einzige, was mir daran gefallen hat, waren die Wahrscheinlichkeitsrechnungen, denn diese konnte man auch im Alltag anwenden. Von Iris Lanchiano

Dieser Monat war kein guter Monat. Angefangen hat alles mit der Ermordung junger Eltern in der Nähe von Nablus im Westjordanland, die mit ihren vier Kindern im Auto saßen. Sie wurden von Terroristen vor den Augen ihrer Kinder erschossen. Dieses Ereignis am 1. Oktober war der Beginn einer neuen Terrorwelle in Israel, von der dritten Intifada wird in den israelischen Medien gesprochen.  Der Oktober ist noch nicht zu Ende, und laut der IDF gab es bereits 41 Terrorattacken.

Wir beobachteten alles vom 23. Stock, als wäre es eine Liveüber tragung im Fernseher ...

F151008TN12Für mich stellt sich die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, Opfer einer Terrorattacke zu werden bzw. einen Anschlag mitzuerleben?
Nach meinen ersten Berechnungen, Anfang des Monats, hielt ich es für eher unwahrscheinlich, denn ich bewege mich weder im Westjordanland noch in Jerusalem. Dort sind die Gemüter aufgeheizt, die  Altstadt, der Tempelberg, die Klagemauer etc. Also kann mir ja theoretisch auch nichts passieren. Die Wahrscheinlichkeit war also höher, von einem Fahrradfahrer auf der Ibn Gavirol in Tel Aviv angefahren als Opfer einer Messerattacke zu werden.

Mein Nebenjob führt mich mehrmals pro Woche in die riesigen Azrieli-Bürotürme. Hier befinden sich große Konzerne, Botschaften und wichtige Anwaltskanzleien. Die Gebäude kann man nur mit einer Mitarbeiterkarte betreten, und gleich gegenüber befindet sich die größte Militärbasis von Tel Aviv. Wenn ich hier nicht sicher bin, wo dann?

Meine Kollegen und ich saßen gerade bei einer Teambesprechung im Büro, als wir drei Schüsse hörten. Zwei aus meinem Team, Shay und Micha, sind ursprünglich aus Jerusalem und mit Anschlägen aufgewachsen. Da wir in der Nähe eines Soldatenstützpunktes waren, haben wir uns zuerst nicht weiter gewundert. Allerdings drehte sich Shay zum Fenster, schaute hinaus und schrie sofort mit lauter, hysterischer Stimme: „Das ist ein Anschlag!“ Nun stürmte auch der Rest des Teams zum Fenster. Wir konnten sehen, wie drei uniformierte Soldaten um eine Person standen, die am Boden lag. Innerhalb kürzester Zeit kamen Menschen angerannt und die Straßen wurden abgesperrt. Der Terrorist lag tot am Boden, doch die Menschen rannten in alle Richtungen, als wäre noch etwas passiert. Das Heulen der Sirenen des Krankenwagens hörte nicht auf. Gleichzeitig  gab es schon die ersten Nachrichtenmeldungen, aus denen wir erfahren konnten, dass der Terrorist vier Menschen attackiert hatte, bevor ihn ein Soldat stoppen konnte. Wir beobachteten alles vom 23. Stock, als wären wir mitten in einer Liveübertragung im Fernsehen, dabei trennten uns lediglich ein paar Meter vom Tatort. Es war surreal. Wir standen alle aufgereiht am Fenster und beobachteten das Geschehen. Mehr und mehr Kollegen kamen aus den umliegenden Büros, da man von unserem Fenster die beste Sicht hatte. Eine Kollegin war gerade unten rauchen, als es passierte, und das Sicherheitspersonal forderte sie sofort auf, in das Gebäude zu kommen. Shay brach in Tränen aus und rannte auf die Toilette. Micha flüsterte mir zu: „Das sind die Traumakinder von Jerusalem.“

Gerade in diesen Minuten, in denen ich diesen Blog schreibe, erreicht mich eine weitere Schreckensnachricht: Messerattacke am Hauptbahnhof in Jerusalem – genau zu jener Uhrzeit, zu der eine Freundin regelmäßig den Bus nach Tel Aviv nimmt. Sie meldet sich, es geht ihr gut, sie hat sich heute für das Sammeltaxi entschieden.

Eine andere Freundin arbeitet in Ra’anana. Dort fand gestern ein Anschlag in jener Bushaltestelle statt, die sie benutzt. Doch sie hat verschlafen und nahm den späteren Bus.

Schießerei am Busbahnhof in Beer Sheba, ein Soldat wird getötet und ein Flüchtling aus Eritrea gelyncht, weil er für den Komplizen des Terroristen gehalten wird.

So oft man versucht, sich hier die Wahrscheinlichkeiten auszurechnen, ereilt einen die bittere Erkenntnis, dass Terror einfach unberechenbar ist. ◗

Bild: © Flash 90/Tomer Neuberg

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