„Weniger ist mehr“. Von Arbeitshemden, Uniformen und dem „Deppen-Hut“

Khakihemden, weite Shorts und der berühmte „Kova Tembel“ prägten über Jahrzehnte das Bild des „typischen Israelis“. Produziert wurden diese Kleidungsstücke von ATA, dem legendären Textilgroßunternehmen, das von zwei Einwanderern aus Österreich-Ungarn gegründet worden war.

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© Matson (G. Eric and Edith) Photograph Collection, Library of Congress, Washington D.C; AFP / picturedesk.com; Jewish National Fund photo archive / Yacov Rosner

Beinahe jeder im Land hatte ihn – den Kova Tembel. Der oft etwas lächerlich aussehende Baumwoll-Sonnenhut, in wörtlicher Übersetzung der „Deppen-Hut“, war noch vor der Staatsgründung und dann über viele Jahrzehnte hinweg das Symbol der Pioniere, die den Staat aufbauten, und des „Israelischen“ schlechthin. Das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) setzte die schlichte Kopfbedeckung aus Baumwolle in einer Ausstellung an die Seite von Modeklassikern wie den Levy-Jeans, dem „kleinen Schwarzen“ (Cocktail-Kleid) von Coco Chanel oder dem Trench Coat von Burberry und war somit wesentlich beteiligt an der Wiederentdeckung des Hütchens als Must-have-Accessoire.

Der Palmach-Kommandant und spätere israelische General Yigal Alon bildete die Ausnahme der Regel und trug statt des Kova Tembel lieber einen australischen Buschhut Er soll dazu bemerkt haben: „Mit dem australischen Buschhut sieht jeder Depp aus wie ein Held, aber der Kova HaMikve [so wurde der Kova Tembel anfangs genannt, nach der Landwirtschaftsschule Mikwe Israel, Anm.] macht aus jedem Helden einen Deppen.“

© Matson (G. Eric and Edith) Photograph Collection, Library of Congress, Washington D.C; AFP / picturedesk.com; Jewish National Fund photo archive / Yacov Rosner

Richtig berühmt und zum nationalen Symbol wurde der Kova Tembel dann durch „Srulik“, den kleinen Israeli in den Cartoons des legendären Zeichners Kariel Gardosh, die unter dem Kürzel „Dosh“ viele Jahrzehnte lang in israelischen Tageszeitungen erschienen. Srulik hatte dazu ein kurzärmliges Khakihemd, Shorts und Sandalen – das gleiche Outfit, das auch Premierminister Ben-Gurion täglich trug, ebenso wie die meisten anderen Politiker, Militärs und hebräischen Arbeiter.

Produziert wurden alle diese Kleidungsstücke seit 1934 von ATA, der von Erich und Hans Moller geführten Fabrik, die das Bild des „modernen Hebräers“ – und natürlich auch der modernen Hebräerin, vor allem der Frauen im Kibbuz – über ein halbes Jahrhundert lang prägte. Erich Moller stammte aus einer jüdischen Industriellenfamilie in Ostrava, sein Cousin Hans Moller folgte ihm vier Jahre später aus Wien nach Palästina.

Innerhalb eines Jahres errichtete Moller im damaligen Kfar Ata, heute Kiriat Ata, die Textilfabrik inklusive der gesamten Infrastruktur: Behausungen für die Angestellten, Zufahrtsstraßen aus dem benachbarten Haifa, Elektrifizierung des gesamten Gebiets und Wasserversorgung durch einen neuen Brunnen. ATA war das erste Unternehmen, das vom Garn bis zum letzten Finish alles selbst erzeugte. Die ersten 20 Arbeiter ließ Moller im Familienunternehmen in der Tschechoslowakei ausbilden, bevor er sie nach Palästina brachte. Es gab auch eine eigene Tochterfirma für die Distribution, und bald entstanden im Land zahlreiche ATA-Stores, schon damals alle mit einem einheitlichen Erscheinungsbild. Das Textilunternehmen wurde schnell zum größten im Land.

 

„Man kann ,nicht moderne‘ Kleider tragen und trotzdem stillvoll sein. […] Trends machen uns alle zu Opfern.“
Yael Shenberger

 

Die Bekleidung war betont einfach, funktionell und haltbar und wurde zum Symbol israelischer Werte und des zionistischen Lebensgefühls. Es ist also nicht überraschend, dass Ben-Gurion auf allen Fotos beinahe ausschließlich im ATA-Outfit zu sehen ist. Um dieses Bild zu vervollständigen, wurde später der Name ATA ursprünglich nach dem Standort der Fabrik in Kfar Ata, vom berühmten hebräischen Schriftsteller S. Y. Agnon zum Akronym für „Arigei tozeret arzeinu“ erklärt, was in etwa bedeutet: „Textilien ,made‘ in unserem Land.“ Im Zweiten Weltkrieg wurde ATA dann zum größten Lieferanten von Zelten, Uniformen, Unterwäsche und Socken für die britische Armee im Nahen Osten. Und nach der Staatsgründung, inzwischen hatte Hans Moller allein die Führung des Konzerns übernommen, kleidete ATA dann auch die israelischen Soldaten ein und war außerdem in der Zeit der „Zena“, der Rationierung, auch in der zivilen Mode federführend, denn die Regierung gab rationierte Coupons für ATABekleidung an alle aus. Man kann also mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass in jenen Jahren jeder israelische Bürger zumindest ein ATA-Stück im Kleiderschrank hatte.

Die Einfachheit der Kleidung, ohne Verzierung oder Musterung, wurde in gewisser Weise auch zelebriert, wollte man sich doch von den „bourgeoisen Juden“ in Europa abzeichnen. Und sie scheint auch dem Geschmack der Mollers entsprochen zu haben. So ließen Hans und Anny Moller noch in den 1920er-Jahren ihre Villa in der Starkfriedgasse in Wien vom Wiener StarArchitekten Adolf Loos entwerfen, dessen Doktrin – „weniger ist mehr“ und „Ornament ist Verbrechen“ – eine neue Epoche im Design einleitete.

© Matson (G. Eric and Edith) Photograph Collection, Library of Congress, Washington D.C; AFP / picturedesk.com; Jewish National Fund photo archive / Yacov Rosner

ATA zählte über Jahrzehnte zu den größten Bekleidungsbetrieben Israels und prägte das modische Gesicht des Landes.

Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren gab es Versuche, die Kleidung mehr an die aktuelle Mode anzupassen. Es wurden Designer engagiert und neben den Standardkollektionen auch „moderne“ Damenkleider produziert. Das Unternehmen blieb noch drei Jahrzehnte führend auf dem Sektor der Arbeitskleidung, doch in der Freizeitmode wurde die Konkurrenz immer stärker, und die jungen Israelis wollten mehr und mehr mit den internationalen Trends mithalten. Intern gab es immer mehr Dispute im Management und Streit mit den Arbeitern, und die große Zeit von ATA war vorbei. 1985, nach einem weiteren großen Streik, ging die Firma schließlich bankrott, und die 2.800 Angestellten wurden entlassen. Erst beinahe drei Jahrzehnte später, inspiriert von einer umfangreichen Ausstellung über den Textilgiganten, der das Erscheinungsbild des typischen Israelis so wesentlich mitgestaltet hatte, initiierten der Unternehmer Shahar Segal und die Modedesignerin Yael Shenberger ein Remake der ATA-Mode. Dabei versuchten sie, ATAs Werte, wie Simplizität, Funktionalität, Qualität und Tragekomfort, zu erhalten und an die heutigen funktionellen Ansprüche und unsere moderne Ästhetik anzupassen. Die neuen ATA-Geschäfte vermitteln ein Flair des ursprünglichen Israel und sind gleichzeitig zeitgemäß. Die Produkte sind ausschließlich aus Baumwolle, werden lokal produziert und sollen lange verwendbar sein.

In einem Interview mit der Tageszeitung Haaretz erklärt Shenberger, dass Mode für ein Kleidungsstück zweitrangig sein sollte. Es soll der Trägerin oder dem Träger zu Diensten sein und nicht umgekehrt: „Man kann ,nicht moderne‘ Kleider tragen und trotzdem stilvoll sein. Wenn das Stück von exzellenter Qualität, ästhetisch und angenehm ist, dann besitzt man etwas, das unbezahlbar und zeitlos ist. Trends machen uns alle zu Opfern – ein trendiges Stück verpflichtet uns zu einem gewissen Stil, und im Jahr darauf müssen wir dann wieder einen ganz anderen Stil tragen.“

Natürlich ist auch der gute alte Kova Tembel wieder mit dabei und gehört angeblich zu den meistverkauften Stücken. Die ikonischen weichen Sonnenhütchen werden mittlerweile teilweise von palästinensischen Arbeitern produziert, in hoher Qualität, wie die Chefdesignerin versichert, und in neuen Farben.

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