„Wir passen aufeinander auf!“ – Der Kibbuz als „gesunde Kapsel“

Wer hätte gedacht, dass die oft als schon etwas verstaubt angesehenen Pioniersiedlungen einmal die so ziemlich höchste Lebensqualität im Land bieten würden? Die einst rein landwirtschaftlich ausgerichteten Kollektive stehen noch immer für Natur, Versorgung und ein Gefühl der Gemeinschaft – damit werden sie in Corona-Zeiten immer mehr zu einem Wunschtraum für Städter und zu einem Ort der „gesunden“ sozialen Interaktion.

1975
© Daniela Segenreich-Horsky

Die Telefon-Hotlines für Menschen in Not liefen auch in dieser zweiten Welle von Covid-19 wieder heiß: „Ich weiß nicht, wie ich den Tag überstehen soll.“ – „Mein Essen ist nicht geliefert worden.“ – „Ich habe keine Medikamente mehr.“ – „Ich darf nicht arbeiten und habe kein Geld mehr für Lebensmittel.“ – „Ich bin mit meinem an Alzheimer erkrankten Mann allein in der Wohnung und weiß mir nicht mehr zu helfen.“ Die Not von älteren und behinderten Menschen ist besonders groß, aber auch überarbeitete Eltern, die während des Lockdowns mit kleinen Kindern wochenlang in ihren Wohnungen eingesperrt sind, rufen an.

Uns geht es gut! In den Kibbuzim und Moshavim dagegen machen die Bewohner eine ganz andere Erfahrung: Sie werden betreut und versorgt, und ihre Lebensqualität bleibt nahezu erhalten. Die in den Kollektiven immer noch hochgehaltenen Werte des sozialen Zusammenhalts und der gegenseitigen Verantwortlichkeit bekommen in dieser Zeit wieder einen neuen Glanz: „Uns geht es gut, die Kinder spielen draußen auf der Wiese, und ich gehe jeden Morgen zum Schwimmen in unserem Swimmingpool, den noch mein Mann erbaut hat. Unser gemeinsamer Speisesaal ist zwar seit März geschlossen, aber wir Senioren bekommen das Essen bis vor die Türe gebracht, wenn wir es nicht selbst abholen können“, erzählt Chaja Cnaani. Die 94-Jährige gehört zu den Gründerinnen des Kibbuz Ma’agan Michael, der direkt an der Mittelmeerküste liegt, etwas über eine Autostunde von Tel Aviv entfernt.

»Wir passen auf unsere Gemeinde auf. Niemand wird vergessen, niemand soll traurig und alleine sein!«
Nechemia Chassid

Die Kibbuzim hatten im Laufe der Jaahre viele wichtige Rollen inne, von der Trockenlegung der Sümpfe und Fruchtbarmachung der Erde über Landwirtschaft und Viehzucht bis zur Verteidigung der Grenzen und der Aufnahme von hunderttausenden Immigranten, die nach Eretz Israel und nach dessen Gründung in den jüdischen Staat strömten. In den 1980er- und 1990er-Jahren erfuhren die Kollektive eine wirtschaftliche Depression und eine Welle der Abwanderung. Der Pioniergeist war nicht mehr in Mode, und das Kibbuzleben vor allem für viele jüngere Menschen nicht mehr attraktiv. Nach und nach wurden viele Prinzipien der Kibbuzbewegung neu überdacht und angepasst, wie etwa das Verbot von privatem Eigentum oder die gemeinsamen Kinderhäuser, in denen die Kinder vom Babyalter an ohne ihre Eltern übernachteten. Die ursprünglich auf Agrikultur und Tierhaltung ausgerichteten Gemeinschaften gründeten Industrien und Unternehmen, und so konnten etwa 250 Kibbuzim weiterhin überleben und teilweise sogar florieren.

Weite auch in Quarantäne. Merav auf ihrem täglichen Morgenspaziergang mit ihrem Hund Dillen über die Felder von Moshav Herut. © Daniela Segenreich-Horsky

Noch vor der ersten Ausgangssperre im März riegelten viele der Kibbuzim und Moshavim ihre Tore für Außenstehende beinahe hermetisch ab. Nur lebenswichtige Zubringer durften passieren: „Das hat bewirkt, dass wir im Frühling nur einen Corona-Kranken hatten, und der hat sich eigentlich im Spital angesteckt“, bestätigt Merav Katz, die seit 15 Jahren im Moshav Herut lebt. Das Häuschen mit dem Yoga-Studio gehört ihr und ihrem Mann, doch der Grund und Boden ist Eigentum des Moshav. Und jeder, der sich dort ansiedeln will, muss erst die Zustimmung der lokalen Aufnahmekommission einholen. Dafür wird er dann Teil der Gemeinschaft, kann im sozialen Netz mitwirken und auch auf dessen Unterstützung zählen.

„Niemand wird vergessen!“ Beim zweiten Lockdown im Oktober war die Absperrung zur Außenwelt nicht mehr so strikt, doch Herut verzeichnete, wie die meisten Kibbuzim und Moshavot im Land, nur wenige Covid-Fälle. Insgesamt erkrankten vier der 1.350 Bewohner, wie Nechemia Chassid berichtet. Der Pensionär ist im Moshav geboren und lebt hier bis heute mit seinen drei Kindern und 12 Enkeln, die er alle regelmäßig draußen auf der Wiese vor dem Haus trifft: „Wir können uns hier immer noch in vielen Bereichen selbst versorgen. Ich betreibe meinen Gemüsegarten, ziehe Avocados und ernte Oliven, und wir haben auch einen Hühnerstall … Wir passen auf unsere Gemeinde auf. Niemand wird vergessen, niemand soll traurig und alleine sein!“ Dafür sorgen in Herut, wie in allen diesen Kollektiven, die speziellen Komitees und Teams. Neben den konventionellen Ausschüssen für Wirtschaft oder Landwirtschaft gibt es auch ein Komitee für soziale Angelegenheiten und jetzt auch ein Corona-Komitee. Die dort aktiven Volontäre kümmern sich vor allem um Notfälle und die Versorgung der älteren „Moshavnikim“. Jeder freiwillige Helfer bekommt einen Senioren oder eine Familie zugewiesen, für die er zuständig ist. Dabei wird auch dafür gesorgt, dass Frauen nach einer Geburt alles haben, was sie brauchen, inklusive warmer Mahlzeiten und Unterstützung mit dem Neugeborenen.

© Daniela Segenreich-Horsky

Das Kulturkomitee muss in Zeiten wie diesen besonders kreativ sein. Wie alle großen Feiern mussten auch die geplanten Festivitäten zum 90-jährigen Bestehen des Moshav auf Grund der Corona-Verordnungen abgesagt werden. Stattdessen fuhr ein Leiterwagen mit Musik durch die Straßen und verteilte kleine Geschenke an die Kinder. Zu den Schawuot-Feiertagen im Frühling gab es eine große Traktorenparade mit einer Blaskapelle, und die vor ihren Haustoren stehenden Bewohner erhielten Blumen und Honig. Und zum Laubhüttenfest wurden die Häuser im Moshav mit Ziergirlanden miteinander verbunden.

Die Kinder werden bei diesen Aktionen mit einbezogen und bekommen Verantwortung zugeteilt. Dazu gehört nicht nur das Basteln von Dekorationen für die Laubhütten von älteren und behinderten Bewohnern. Beinahe jeder Jugendliche ist für eine Gruppe von jüngeren Kindern verantwortlich, im Moment arbeiten die Teens fieberhaft an den Programmen und Aktivitäten, die sie mit ihren „Zöglingen“ zu Chanukka machen wollen.

© Daniela Segenreich-Horsky

Um das in diesen Zeiten ständig überarbeitete Pflegepersonal zu unterstützen, wurde kürzlich in der Bibliothek von Herut eine eigene Ecke für Kinder von Krankenpersonal und Ärztefamilien des Moshav eingerichtet. Hier können die Kleinen unter Aufsicht ihre Aufgaben machen und spielen, damit sollen den Eltern, die wegen der Epidemie besonders viele Überstunden machen müssen, die hohen Babysitterkosten erspart werden. „Jetzt würden alle am liebsten Ärztekinder sein“, scherzt Nechemia. Alle Familien im Moshav wurden gebeten, etwas zu spenden, Pölster, Bücher oder Spielsachen. Damit ist es so gemütlich geworden, dass am liebsten alle Kinder dort sitzen wollen. „Ich habe schon in vielen Ländern und an vielen Orten gelebt, aber so einen Gemeinschaftssinn wie hier gibt es nirgendwo“, konkludiert Merav und macht sich auf ihren täglichen Morgenspaziergang in die Weite der Felder. Von diesem Luxus konnten die in der zweiten Ausgangssperre auf 1.000 Meter beschränkten Städter nur träumen.

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