„Ein klarer Blick auf starke jüdische“

Die aus München zugewanderte Historikerin Martina Steer befasst sich mit jüdischer Geschichte der Neuzeit und betreibt Erinnerungsforschung an der Universität Wien.

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© Reinhard Engel

Wenn du nach Wien gehst, enterbe ich dich“, dekretierte die Großmutter in München ziemlich resolut. „Sie hat das auch strikt durchgezogen“, lacht Enkelin Martina Steer heute da­rüber. Aber etwas Verletzendes, Wehmütiges klingt da noch mit. Eine Schachtel mit Schmähbriefen hat die nicht weniger entschlossene Martina aus dem Nachlass der geliebten Oma dann doch an sich genommen. „Sie kam aus Budapest nach Oberbayern, wo sie den Großteil ihres Lebens verbrachte. Trotz der antisemitischen Briefe, die sie als Geschäftsfrau jahrelang gesammelt hatte, war sie überzeugt, dass es in Wien noch schlimmer sei“, erzählt die Historikerin, die seit 2010 jüdische Geschichte der Neuzeit an der Universität lehrt und Erinnerungsforschung betreibt.

Der Diskurs mit der Großmutter fand im Jahre 2000 statt, als die in Landshut in Niederbayern geborene Wissenschafterin wegen ihres Doktorvaters nach Wien zog, um hier ihre Dissertation zu verfassen. „Vier Tage vor meinem Rigorosum ist sie gestorben“, erzählt die zweifache Mutter. Doch bevor sie in Wien mit ihrer Familie sesshaft wurde, arbeitete die Historikerin an ihrer vielfältigen akademischen Karriere, die sie in Kürze mit ihrer Habilitation krönen wird.

Wie aber kam es zur Entscheidung für das Studienfach „Jüdische Geschichte der Neuzeit“? „Grundsätzlich studierte ich in München Geschichte, aber bereits während des ersten Semesters wurden verschiedene Referatsthemen zur jüdischen Geschichte Europas angeboten, und das hat mich interessiert“, erzählt Steer, die daraufhin die Geschichte der Juden in Landshut im Mittelalter erforschte. „Ein wenig Hebräisch konnte ich aus dem Religionsunterricht, und je mehr ich gelesen habe, umso mehr bin ich in das Thema hineingewachsen.“ Bald darauf ging sie nach Berlin, anschließend ein Jahr nach Rotterdam, um dann an die Ludwig-Maximilians-Universität in München zurückzukehren. „Mit Professor Michael Brenner hatte ich einen sehr guten Betreuer für meine Masterarbeit über die jüdische Philosophin Margarete Susman (1872–1966), die sich auch mit Frauenemanzipation beschäftigt hatte.“ Durch Zufall stieß Steer auf einen Artikel über Susman, deren Leben und Schaffen sie gleichermaßen faszinierten. „Es kamen bei dieser Essayistin und Poetin so viele verschiedene intellektuelle Strömungen während der Weimarer Republik zusammen, dass ich sie unbedingt näher kennenlernen wollte.“ Doch die Historikerin begnügte sich nicht mit dem Porträt einer einzigen großen jüdischen Frau: Sie verfasste auch die Biografie von Bertha Badt-Strauss (1885–1970), einer überzeugten Zionistin und streng religiös lebenden deutschen Jüdin. Bertha Badt stammte aus einem Haus jüdischer Gelehrter und promovierte 1908 in Berlin als erste Frau an der philosophischen Fakultät. Nach dem Ersten Weltkrieg begann sie, über jüdische Themen zu schreiben, und wurde zu einer der produktivsten und bekanntesten Publizistinnen im Berlin der Zwischenkriegszeit. „Ich bin mit starken, dominanten Frauen aufgewachsen, die die Geschicke ihrer Familie in weiten Teilen bestimmt haben“, schmunzelt Steer, „vielleicht rühren die Faszination und das Interesse daher.“

Kein homogenes Kollektiv. Bevor Martina Steer Lehraufträge und den Assistentinnenposten am Institut für Geschichte an der Universität Wien annahm, war sie u. a. an der Europäischen Universität in Florenz, am German Historical Institute in Washington sowie an der Universität Breslau und dem Simon Dubnow Institut in Leipzig tätig. „Neben meinen jüdischen Themen mache ich europäische und transnationale Geschichte. Wirklich aufregend und interessant sind – in Zeiten wie diesen – die Sommer- und Winterseminare in Lemberg und Kiew. Die habe ich mit einem ukrainischen Kollegen im Auftrag der Open Society Foundation für junge Kulturwissenschaftler aus ehemaligen Sowjetstaaten organisiert.“ Übersetzer benötigt die umtriebige Wissenschafterin nicht, denn sie spricht mehrere Sprachen, darunter Italienisch, Holländisch und natürlich Jiddisch und Hebräisch.

„Antisemitismus ist nicht jüdische Geschichte –
das ist eher die Geschichte der Antisemiten.“
Martina Steer

„Das Projekt, das ich gerade abschließe, beschäftigt sich mit Moses-Mendelssohn-Jubiläen in Deutschland, Polen, Israel und den USA. Natürlich auch im Habsburgerreich, da habe ich wunderbare jiddische Texte aus Galizien und Predigten von Adolf Jellinek aus Wien gefunden“, erzählt die Bayerin, die als Jugendliche die Bücher von Christine Nöstlinger verschlungen hatte. Für die Forscherin stellt der 1729 in Dessau geborene Philosoph der Aufklärung und Wegbereiter der Has­kala einen bedeutenden Referenzpunkt in der Vergangenheit dar, weil er eine starke identitätsstiftende Wirkung auf unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der jüdischen Gemeinden ausübte. „Moses Mendelssohn ist sozusagen ein wichtiger Erinnerungsort. Das ist aber keine geografische Bezeichnung, sondern eine Metapher für ein Ereignis oder eine Person, die über Grenzen hinweg die Menschen im positiven oder negativen Sinn beschäftigt und beeinflusst hat.“ Da die Juden kein homogenes Kollektiv waren und sind, erinnern Liberale, Orthodoxe und Zionisten unterschiedlich, weil sie jeweils auch andere Ziele mit Mendelssohn verfolgten. Sowohl aus Büchern und Texten über den zeitlebens religionsgesetzestreuen Reformer als auch aus musikalischen Kompositionen und Feiern lässt sich ablesen, wie man mit Mendelssohn umgegangen ist. „Seine Befürworter versuchten zu Beginn, die getauften Nachfahren Mendelssohns überhaupt auszublenden. Etwas später wurde man offener, und Musikstücke von Felix Mendelssohn Bartholdy wurden auch in Synagogen gespielt“, berichtet Steer. In der bisherigen Forschung hat es eine ganz klare Ost-West-Trennung gegeben: In Westeuropa befürworteten die Juden die Emanzipationsbestrebungen Mendelssohns, ohne die Jüdischkeit zu verwässern, im Osten dagegen wurde er als Sinnbild der Assimilation, der Mischehe etc. dargestellt.

„Was mich bei Fragen zur jüdischen Geschichte immer gestört hat, ist, dass viele dabei nur an die Themen Antisemitismus und Schoah denken. Natürlich spielt das eine wesentliche Rolle im jüdischen Bewusstsein und in der Historie, aber Antisemitismus ist nicht jüdische Geschichte – das ist eher die Geschichte der Antisemiten“, entrüstet sich die Historikerin. Es gebe auch ein modernes jüdisches Kollektivgedächtnis, das sich nicht zwangsläufig mit dem Holocaust oder anderen Traumata beschäftigt. Aber wo und wie findet heute ein junger jüdischer Mensch, der kein religiöses oder historisches Wissen hat, die positiven Erinnerungsorte? „Das kann Theodor Herzl sein, Gefillter Fisch oder die Stadt Prag. Israel ist ein gutes Beispiel, wie man Erinnerungsarbeit machen kann: Auch die militärische Stärke kann als Garant des Überlebens positiv besetzt sein – als Kontrapunkt dazu, dass Juden immer nur Opfer waren.“

Martina Steer hatte kein Problem, sich in Wien schnell und gut einzuleben. In ihrer Lehrtätigkeit an der Universität Wien war sie weniger mit Antisemitismus konfrontiert als mit Unwissen und merkwürdigen Ressentiments. Sprüche wie „Ihr Juden könnt ja gut mit Geld umgehen“ hat sie schon serviert bekommen. „Schlimmer ist, dass Diskussionen oft in eine Israel-Kritik umschlagen, z. B. wenn von den ‚bösen Besatzern‘ die Rede ist, die ‚von Amerika finanziert werden‘. Es geht so in Richtung Dämonisierung“, erzählt Steer.

Das nächste Projekt der Historikerin wird sich mit der Geschichte der jüdischen Frauen in der Habsburger-Mo­narchie und insbesondere mit jenen in Galizien im Ersten Weltkrieg beschäftigen. „Wenn ich mir das Leben der jüdischen Frauen in Galizien anschaue, eröffnet das ganz andere Blickweisen auf das österreichische Judentum insgesamt: In Lemberg z. B. lebten zumeist bürgerliche Frauen, die sich intellektuell weiterbilden konnten. Aber der Großteil der Frauen lebte im Schtetl in ländlichen Gegenden. Sie konnten zwar auch schreiben und lesen, waren aber auf einen gänzlich religiösen Mikrokosmos eingeschränkt. Sie hatten die meiste Verantwortung für die Familie zu tragen.“ Womit Martina wieder bei starken Frauen angelangt sein wird – und sich der Kreis zur geliebten Großmutter erneut schließt.

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