Zeitreise nach Shanghai

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1997 bin ich zum ersten Mal in Shanghai gewesen. Damals stand reines Sightseeing, eingebunden in eine Journalistengruppe, auf dem Programm: der Bund, das Teehaus und dann war da noch dieses wundervoll Art Deco-Hotel. Sieben Jahre später arbeitete mein Mann eine Zeitlang im Rahmen eines Projekts seines Arbeitgebers in Shanghai und ich flog hin, um ihn zu besuchen. Es war ein völlig anderes Setting als bei meinem ersten Aufenthalt: während mein Mann an seinem dortigen Arbeitsplatz mit den chinesischen Kollegen werkelte, erkundete ich auf eigene Faust die Stadt.

»1945 sind alle wieder gegangen.«

1997 bin ich zum ersten Mal in Shanghai gewesen. Damals stand reines Sightseeing, eingebunden in eine Journalistengruppe, auf dem Programm: der Bund, das Teehaus und dann war da noch dieses wundervoll Art Deco-Hotel. Sieben Jahre später arbeitete mein Mann eine Zeitlang im Rahmen eines Projekts seines Arbeitgebers in Shanghai und ich flog hin, um ihn zu besuchen. Es war ein völlig anderes Setting als bei meinem ersten Aufenthalt: während mein Mann an seinem dortigen Arbeitsplatz mit den chinesischen Kollegen werkelte, erkundete ich auf eigene Faust die Stadt.

Es war ein nahezu abenteuerliches Unterfangen, denn Englisch half im Hotel, aber nicht auf der Straße. So machte ich mir Tag für Tag einen genauen Plan, was ich mir ansehen wollte und an der Rezeption war man so nett, mir kleine Zettelchen zu schreiben: da stand dann in chinesischen Schriftzeichen darauf, dass ich vom Hotel nach AB und von AB zu XY und von XY zurück zum Hotel wollte. Diese Zettelchen zeigte ich dann den Taxifahrern und das funktionierte ganz gut.

Darüber hinaus hatte sich die Stadt in diesen sieben Jahren massiv verändert. Das Teehaus hatte nun Disneyworld-Charakter, alte Häuser drumherum gab es keine mehr und überall waren Wolkenkratzer in die Höhe geschossen. Während es 1997 noch nicht besonders viele Einkaufsmöglichkeiten gegeben hatte, luden die Geschäfte 2004 später an allen Ecken und Enden zum Shopping ein. Ich hatte zuvor noch nie miterlebt, wie sich eine Stadt in so kurzer Zeit so sehr verändern konnte.

Einen Tag hatte ich mir für eine ganz besondere Recherche reserviert: ich wollte in jenes Viertel fahren, in dem sich in NS-Zeit das Ghetto für jüdische Geflüchtete befunden hatte. Der Taxifahrer setzte mich an der gewünschten Adresse ab und dann flanierte ich eine Weile durch die Straßenzüge, suchte nach Spuren. Es sollte da eine Gedenkstätte geben, die an das ehemalige Ghetto erinnerte, und schließlich fand ich sie. Und hatte Glück. Denn ich traf auch Fa Liang Wang an, damals 85 Jahre alt. Und Herr Wang sprach ein wenig Englisch und war so reizend, sich da spontan mit mir hinzusetzen, mir viel zu erzählen, mich herumzuführen.

Die Gedenkstätte befand sich in einer ehemaligen Synagoge, der Ohel Moishe Synagoge in der Changyang Road im Stadtteil Hongkou. Die Frauengalerie war wegen Einsturzgefahr nicht mehr betretbar, die Synagoge nicht mehr in Betrieb, weil da einfach niemand mehr war. „1945 sind sie alle gegangen“, sagte mir Herr Wang. In der Gedenkstätte waren vor allem Fotos ausgestellt, die „Refugees“ in Shanghai zeigten. In der hinter der Synagoge gelegenen Matze-Fabrik befand sich nun ein Kunstraum.

Spannend war aber vor allem, was Herr Wang, geboren 1919, über die NS-Zeit zu erzählen hatte. Die Juden aus Europa, sie hätten sich sehr schwer getan in Shanghai, vor allem dann, als die Japaner die zuvor noch über die Stadt verstreut lebenden Geflüchteten zwangen, ins Ghetto zu ziehen. „Wir waren es gewohnt, dass man heißes Wasser für ein Bad erst holen gehen musste. Wir waren es gewohnt, kalte Winter ohne gute Heizung zu verbringen. Wir waren es gewohnt, das Essen auf kleinen Öfchen, die auf dem Boden standen, zu kochen. Sie kannten das alles nicht. Für sie war es ein Abstieg, viele haben es nicht ertragen.“

David Ludwig Bloch: Straßenszene in Hongkew, Aquarell, 1949. © Leo Baeck Institute New York

Zwischen 1933 und 1941 konnten sich über 30.000 Juden und Jüdinnen aus Europa nach Shanghai retten. Rund 25.000 von ihnen blieben bis Kriegsende. An die 20.000 von ihnen sprachen Deutsch. Sie legten damals auch ein Register an, um einander zu finden. Herr Wang zeigte mir ein in den 1950er Jahren von einem ehemaligen dorthin Emigrierten veranlassten Faksimiledruck dieses Registers. Es umfasste rund 5.500 Einträge. Auch sonst versuchten die Neuankömmlinge trotz der so anders funktionierenden Welt, in die sie da hineingeraten waren, Dinge aus ihrem bisherigen Leben hierher zu transferieren.

Sie öffneten kleine Kaffeehäuser, erzählte Herr Wang, abends gab es Theater- und Gesangsvorstellungen. In der heutigen Huashan Lu, die damals Wayside Road hieß, befand sich das Broadway Theatre und auf dessen Dach das Vienna Café. Von diesem gab es 2004 zwar keine Spuren mehr, aber Herr Wang konnte sich noch daran erinnern.

Als ich nun die 2004 notierte Homepage-Adresse der Gedenkstätte eingab, zeigte sich: diese Seite gibt es nicht mehr. Dafür fand ich eine Seite eines Shanghai Refugees Museum Shangai, das 2012 eröffnet wurde. Es hat sich also in der Zwischenzeit jemand der baufälligen ehemaligen Synagoge in der Changyang Road angenommen und ein modern gestaltetes Museum daraus gemacht. As time flies by. Und, siehe eingangs: in Shanghai verändern sich die Dinge sehr rasch.

Herr Wang wird heute wahrscheinlich nicht mehr am Leben sein. Er erzählte mir von seinen Eindrücken, wie es jüdischen Geflüchteten in Shanghai in den 1930er und 1940er Jahren erging. In einer Ausstellung im Jüdischen Museum Wien wird die Geschichte des Shanghaier Ghettos nun aus der Perspektive der Geflüchteten erzählt. „Die Wiener in China“ nennt sich die Schau, die viele Fotos, aber eben auch viele Zeitzeugen- und Zeitzeuginnenberichte versammelt.

Vor allem aber wird hier die Geschichte von Familien erzählt, die sich in Shanghai in Sicherheit bringen konnten, nach dem Ende des Krieges aber wieder nach Wien zurückgekehrt sind. Die Adlers, die Basch, die Brandes, die Breitners, die Brodmanns, die Dawids, die Frischlers, die Gals, die Grünbergs, die Hirschs, die Hungerleiders, die Jabloners, die Landaus, die Moderns, die Paschkes, die Pelichowers, die Ranzenhofers, die Rosenzweigs, die Spielmanns, sie alle überlebten am anderen Ende der Welt, wollten dann aber wieder nach Hause. Und hätten sich einen freudigeren und willkommeneren Empfang hier erwartet. Aber immerhin, man war zurück in der alten Heimat und irgendwie fand man sich hier wieder ein. Wie sagte Herr Wang? „1945 sind sie alle gegangen.“

Da dürfte ihm die Erinnerung zwar etwas einen Streich gespielt haben. Denn, so dokumentiert nun die Schau im Jüdischen Museum, der erste Transport mit 38 Remigranten und Remigrantinnen aus Shanghai traf am 25. Jänner 1947 in Wien ein, zwei Wochen später dann ein zweiter mit insgesamt 764 Personen. Die Reise war mehr als beschwerlich: zunächst ging es mit dem US-Schiff „Marine Falcon“ nach Neapel, dann Tage lang mit dem Zug nach Wien. Bei der Ankunft versank die Stadt im Schnee. Ein frostiger Empfang auf mehreren Ebenen. Dem war ein unwürdiges Tauziehen vorangegangen.

(o.) Jutta Jabloner und Inge Hungerleider schauen vor der Heimreise von Shanghai nach Wien durch ein Bullauge der MarineFalcon © Sammlung Jabloner, Foto: Hans Jabloner | (u.) Ein Treffen nach 72 Jahren, Jutta Jabloner und Inge Hungerleider, März 2020 © Danielle Spera

„Die Rückkehr aus Shanghai war nur mit Hilfe der österreichischen Regierung oder einer politischen Partei des Landes möglich, und obwohl die Geflüchteten ihre Staatsbürgerschaft nie freiwillig aufgegeben hatten, setzte man in Österreich auf Zeit“, heißt es im Katalog zur Ausstellung. „Nur allzu gerne hätte man die jüdischen Geflüchteten zu ‚Displaced Persons’ erklärt. Von Jänner 1946 bis Mai 1946 ließ das Bundesministerium für Inneres die Staatsbürgerschaftsansuchen unerledigt. Erst durch die Unterstützung der Israelitischen Kultusgemeinde und der Austrian Residents Association (gegründet 1945 in Shanghai, Anm.) erlangten die Heimkehrerinnen und Heimkehrer wieder das Recht, Österreich ohne Einreisepapiere zu betreten.“

Dass niemand im Shanghaier Exil blieb, zeigt, wie schwer es gewesen sein muss, in dieser völlig fremden Kultur zurechtzukommen oder sich heimisch zu fühlen. Wenn ich mich daran zurückerinnere, wie ich mich 2004 unter völlig anderen Rahmenbedingungen doch etwas verloren fühlte bei meinen Stadterkundungen auf eigene Faust, kann ich das gut nachvollziehen. Die Ausstellung „Die Wiener in China“ zeigt aber nun eben auch auf, wie man in der NS-Zeit versuchte, das beste aus dieser sehr widrigen Situation zu machen. Da begegnet einem „Little Vienna“ in Bildern und Erzählungen, da sieht man, wie sich die Emigranten mit deutschsprachigen Schildern, Plakaten, Ankündigungen auch in den Stadtalltag eingeschrieben haben. Wer sich auf diese Zeitreise begeben möchte: die Schau hat noch bis 18. April geöffnet.

Die Wiener in China. Fluchtpunkt Shanghai

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