„Andere haben’s noch viel schwerer gehabt“

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Aus dem Maimonides-Zentrum blickt Kitty Sinai nach vor auf das Fußball-Stadion und zurück auf ihr Leben.

Aufgezeichnet von Anita Pollak  

So ein sorgenfreies Leben wie jetzt hab ich eigentlich noch nie gehabt“, meint die gepflegte alte Dame, der man ihr Alter nicht anmerkt. Seit dem Tod ihres Mannes lebt Kitty Sinai in einem schönen kleinen Appartement im Maimonides-Zentrum. Vom Balkon aus sieht sie das Stadion, „und wenn es ein Fußballmatch gibt, hör’ ich, wenn ein Tor fällt.“ Sportlich ist die ehemalige Schwimmerin der Hakoah auch heute noch, macht ihre Einkäufe zu Fuß und geht oft im nahen Prater spazieren. „Mich kennen schon alle Würstelstände in der Umgebung.“

„Meine Generation war so infiziert von diesem Hitler, das bringst aus denen nicht raus, auch wenn’s keine Nazis waren.“ Kitty Sinai

Ihre unerschütterlich positive Einstellung zum Leben hat ihr wohl über alle Widrigkeiten und die schweren Zeiten hinweggeholfen, die sie als Wiener Jüdin durchmachen musste. „Andere haben’s noch viel schwerer gehabt“, und „ich hab’ bei allem immer ein Masel gehabt“, glaubt sie fest, während sie als routinierte Zeitzeugin in fast druckreifen Sätzen aus ihrem Leben berichtet. „Ich hab’s ja schon so oft erzählt.“ Ihre beiden Söhne haben die Geschichten der Eltern früher oft nicht mehr hören wollen, später haben sie deren Erinnerungen aber doch in Buchform aufzeichnen lassen, vor allem für ihre eigenen Söhne, Kittys Enkel. „Es sind brave Kinder, sie kommen mich oft besuchen. Es beruhigt sie, dass ich hier bin und nicht allein im Haus in Weidling“, wo sie bis vor drei Jahren gewohnt hat. Bis dahin ist sie noch selbst Auto gefahren, nach dem Tod ihres Mannes fühlte sie sich dort zu isoliert. „Hier hab’ ich jetzt Gesellschaft. Freunde von mir waren schon da, ich hab’ mit ihnen Bridge gespielt und bin dann eben selbst hergezogen.“

Am Schabbat und an den Feiertagen im Haus nimmt sie gern teil, obwohl sie nie religiös war. „Koscher ist mir völlig wurscht, aber in ein nichtjüdisches Altersheim wär’ ich nie gegangen. Meine Generation war so infiziert von diesem Hitler, das bringst aus denen nicht raus, auch wenn’s keine Nazis waren.“

Überleben in Wien

Als Kitty Löwy wurde sie 1924 im sechsten Bezirk in Wien geboren, die Mutter war vor der Hochzeit zum Judentum übergetreten, der Vater, ein gelernter Grafiker, stammte aus einem frommen Haus. „Ich bin jüdisch erzogen, zu Pessach hab’ ich immer das Manischtane sagen müssen.“ Weil beide Eltern arbeiteten, mussten sie ihr einziges Kind „in Pflege“ geben. Aber auch dort, im Gemeindebau in Simmering, hat Kitty sich wohl gefühlt, wie sie sich überhaupt an ihre Kindheit als „eine wunderschöne Zeit“ erinnert, bis sich diese „Harmonie“ nach Hitlers Einmarsch radikal veränderte. „Löwy, geh’ nach Haus’, du bist hier nicht mehr erwünscht“, hat eine Mitschülerin zu ihr gesagt, und mit diesem traumatischen Erlebnis begann für das Mädchen eine schwere Zeit. Die Eltern ließen sich pro forma scheiden, wodurch Kitty als so genannter Mischling, „wie bei den Hunderassen“, mit der nunmehr „arischen“ Mutter in der Wohnung bleiben konnte. Der Vater musste ausziehen. Auswanderungsversuche der Familie scheiterten, obwohl jüdische Tanten schon 1936 nach England gegangen waren. Bis zum November-Pogrom arbeitete Kitty als Lehrling in einer jüdischen Schneiderei, dann wurde sie zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt. Als sie zwei Jahre später nach Wien zurück transportiert wurde, hat sie „Todesangst“ gespürt, weil bereits Gerüchte von Deportationen nach Polen kursierten. „Den ganzen Hitler hab’ ich aber mit Glück überlebt.“

Den gelben Stern, den sie trug, musste sie verdecken, um bei den Bombenangriffen auf Wien in den Luftschutzkeller gehen zu können. Nach der Befreiung war er aber ein Privileg, denn beim Anstellen um Lebensmittel hat sie ein Russe wegen dieses Sterns sofort ganz nach vor gehen lassen. Noch heute strahlt sie bei der Erinnerung daran. „Das war mir so eine Genugtuung, dass die, die mich verfolgt haben, erst nach mir dran kamen.“

Privates Glück
Todesangst gespürt. „Den ganzen Hitler habe ich aber mit Glück überlebt“, Kitty Sinai.
Todesangst gespürt. „Den ganzen Hitler habe ich aber mit Glück überlebt“, Kitty Sinai.

In der Nachkriegszeit wurde die wieder gegründete Hakoah quasi ihre „Familie“, und in der Hakoah-Hütte am Semmering traf sie im Sommer 1947 mit dem aus Russland heimgekehrten Erich Sinai schließlich den Mann ihres Lebens. Kitty absolvierte die Modeschule Hetzendorf als Modezeichnerin, Erich übernahm eine Konfektionsfirma und war dreißig Jahre lang Präsident der Hakoah. „Es war eine herrliche Zeit.“

Das Schicksal war „gnädig“, meint sie heute im Rückblick auf ihr Leben. „An Gott hab’ ich nie geglaubt, und oft hab’ ich gedacht, wo gehör’ ich jetzt hin? Dem Hitler war ich zu jüdisch, manchen Juden wiederum zu wenig. Wir haben uns aber nur in jüdischer Gesellschaft wohl gefühlt.“ Denn Bemerkungen wie „jetzt soll schon mal a Ruh’ sein mit dem Thema“ wollten die Sinais nicht hören. „Weil für uns war ka’ Ruh.“

Bild: © Konrad Holzer

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