Der familiäre Zusammenhalt

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Harry Radzyner: Von Łódź über Mallorca zum Gründervater des IDC* in Herzliya. Von Marta S. Halpert   

Wie ein echter pater familias überblickte er wohlwollend die große Familie. Und groß war sie: An langen, schön gedeckten Tischen saßen rund 170 Gäste und erwarteten freudig den Beginn des Sederabends. Das ist eine Szene, die sich an vielen Orten der Welt zu diesem Termin abspielte – und doch war es hier, in Palma de Mallorca, etwas Besonderes. Denn Harry Radzyner war nur im übergeordneten Sinn der Vater an dieser Tafel: Er hatte die gesamten Kosten für diesen Gemeindeseder übernommen, ohne ihn hätte er auch in den letzten vier Jahren nicht stattfinden können. Zwar zahlten einzelne Touristen, die gerade auf der Insel Urlaub machten, einen symbolischen Beitrag, aber Radzyner war der Hauptsponsor.

„Wir fingen in ehemaligen Militärbaracken mit 230 Jusstudenten an. Heute studieren 6.500 Jugendliche am IDC.“

„Zuerst feierten wir allein zu Hause, doch dann haben wir gesehen, dass auch die jüdische Gemeinde einen Seder organisiert“, erinnert sich Radzyner. Als er aber seine englischen Freunde fragte, ob sie auch hingehen würden, erhielt er die Antwort, „das kostet 45 € pro Person, und das ist uns zu teuer.“ Das war die Motivation für den in Düsseldorf ansässigen Geschäftsmann, die Kosten zu übernehmen. „Die englischen Juden hier auf Mallorca sind keine reichen Leute. Viele kommen als Pensionisten hierher, und das englische Pfund ist auch nicht mehr das, was es einmal war“, erklärt Radzyner, der zusätzlich zum Sederabend jetzt auch die Gemeindeinfrastruktur unterstützt. Die englischen Juden zählen zwar zu den Gründern der Community auf Palma, aber sie werden immer weniger. Und die jüngere Generation kam nicht nach. „Trotzdem sehe ich die Zukunft der Gemeinde positiv, denn es kommen spanische Immigranten aus Lateinamerika, vor allem aus Chile und Argentinien – und die haben Kinder“, lacht der joviale Achtziger.

„Überleben war reines Glücksspiel“

Die Antwort, warum bei Harry Radzyner, einem säkularen Juden, gerade das Pessachfest eine so starke emotionale Verankerung gefunden hat, ist in der Geschichte dieser angesehenen polnischen Familie zu finden. Bereits Harrys Urgroßvater war in Warschau im Stahlhandel tätig. Die nächste Generation übersiedelte nach Łódź, wo der Stahlbau florierte und große Nachfrage nach dem Material bestand. Harrys Großvater war Präsident der über 200.000 Juden zählenden Gemeinde, Parlamentsabgeordneter in Warschau und gleichzeitig Vorsitzender der orthodoxen Agudath Israel. Daher wundert es nicht, dass die Großmutter dafür sorgte, dass ein traditioneller Sederabend abgehalten wurde. „Als meine Großmutter starb, waren alle etwas ratlos, wer denn in Zukunft diese schöne Tradition fortführen sollte“, erinnert sich Radzyner. „Mein Bruder studierte zwar die Tora, wurde auch religiös erzogen, aber im Grunde war er ein Atheist.“

Bruder Viktor war mit seinem Religionslehrer unzufrieden, weil dieser seine diffizilen Fragen immer mit der Formel „weil Gott es so will“ abschmetterte. Er bekam einen neuen Lehrer – nur dieser war auch ein überzeugter Kommunist und bekehrte den14-Jährigen zum Kommunismus. „Seine spätere Frau war ebenfalls Atheistin und eine Intellektuelle, die das Kochen hasste. Trotzdem übernahm sie diese Aufgabe, und so konnte die ganze Familie bis zu ihrem Tod im Jahre 1990 in Wien den Seder weiterführen. Und das blieb unser familiärer Zusammenhalt.“

Doch bis zu dieser Art von Normalität im Nachkriegs-Wien hatte Harry Radzyner noch einen langen, schmerzvollen Weg zu gehen. Er war gerade einmal sechs Jahre alt, als die Wehrmacht im September 1939 in Polen einmarschierte und kurze Zeit später seine Heimatstadt Łódź besetzte. Mit Jahresende wurde seine ganze Familie in das Getto von Łódź deportiert. Er durfte noch ein Jahr zur Schule gehen, dann musste der Achtjährige als Hilfsschlosser arbeiten. Er stellte kleine Bleche her, die auf die Wehrmachtsstiefel geschraubt wurden, damit sich die Absätze der Soldaten nicht so schnell abnutzten. Zehn Stunden war er täglich im Arbeitseinsatz.

Mit dem Näherrücken der Roten Armee im August 1944 wurden 70.000 Juden aus den Getto nach Auschwitz deportiert. „Angesichts der regelmäßigen Selektionen war das Überleben reines Glücksspiel“, erinnert sich Radzyner, der einem Sondertransport für „rüstungswichtige“ Arbeiter zugeteilt wurde. Ein anderes Mal zog ihn ein SS-Mann unvermittelt an der Hand aus einer Gruppe von Kindern heraus. „Das war eigentlich das Todesurteil. Mein Vater dachte, er sehe mich nie mehr wieder.“ Doch anstatt in die Gaskammer brachte der SS-Mann den kleinen Harry in die Schneiderei des Lagers, wo nach den Maßen Radzyners ein Anzug für den Sohn des SS-Mannes geschneidert wurde. „Ich erinnerte ihn an sein Kind. Er drückte mir nachher Brot und Zwiebeln in die Hand und ließ mich laufen.“

Ende November 1944 wurden die Radzyners nach Dresden in eine Munitionsfabrik geschickt. Radzyners Mutter überlebte den Fußmarsch von Stutthof nach Dresden nicht mehr. Das KZ Theresienstadt war die letzte Station des Schreckens, bevor die Überlebenden am 9. Mai 1945 von den Russen befreit wurden.

„Mit dem Geld etwas Gescheites tun“

„Wir kehrten nach Łódź zurück, doch von dem Stahl, war nichts mehr übrig. Die Kommunisten nahmen meinem Vater die Fabrik weg und wollten ihn ins Zuchthaus stecken“, erzählt Radzyner. 1948 floh der Vater über die grüne Grenze und ließ sich schließlich in Aachen nieder, wo er eine Weberei aufbaute. Bruder Viktor brach erst später mit dem Kommunismus und kam 1959 mit seinen beiden Töchtern nach Wien, wo er und seine Frau Medizin studierten.

Harry Radzyner reiste aus dem Salzburger DP-Lager 1950 alleine in die USA und studierte in New York Automation und Systembau. Obwohl ihn bei Bell Telephone Laboratories eine große Karriere erwartet hätte, führte ihn die Sehnsucht nach der Familie wieder nach Europa zurück. In Wien war das Treffen mit der Großmutter, dem Vater und dem Bruder verabredet. Acht Jahre hatte er sie nicht gesehen. „In Wien habe ich dann meine Frau kennen gelernt. Sie war als Medizinstudentin auf der Durchreise von Krakau nach Paris.“ Nach der Hochzeit in Salzburg lebten Micheline und Harry von 1957 bis 1961 Wien. „In der Gumpendorfer Straße hatte ich eine Kleiderreinigung mit 41 Beschäftigten“, lacht Radzyner.

Der große geschäftliche Erfolg stellte sich ein, als Harry für seinen Vater eine verlustbringende Firma in Düsseldorf liquidieren sollte. „Die Firma war in Ordnung, die Kompagnons nicht. Damit stieg ich in den Schmuckhandel ein“, erzählt er verschmitzt. Radzyner wurde zu einem der größten Edelschmuckhersteller und Lieferanten in Deutschland. „1993 wurde ich 60 und wollte, dass mit meinem Vermögen etwas Gescheites passiert.“ Doch Radzyner wollte keine Stiftung, er wollte etwas Lebendiges. Es konnte ihm geholfen werden: Ein Freund brachte ihn mit Professor Uriel Reichmann zusammen, dem Dekan der juristischen Fakultät an der Universität Tel Aviv, der gerade für die Verwirklichung seines Traumes, einer interdisziplinären Privatuniversität, Sponsoren suchte. Harry Radzyner wurde 1994 sein Partner und Mitbegründer der IDC Herzliya, einer Bildungsstätte, die heute zu den renommiertesten des Landes zählt. Weil die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität etwa zum gleichen Zeitpunkt eine Fakultät für Rechtswissenschaft aufbaute, brachte Radzyner beide Institutionen zusammen: Die Universitäten kooperieren seitdem und pflegen einen intensiven Studentenaustausch. „Wir fingen in ehemaligen Militärbaracken mit 230 Jusstudenten an. Heute studieren 6.500 Jugendliche am IDC, davon über 2.000 nur Juristen“, berichtet Radzyner stolz.

Trotz all dieser Aktivitäten wurde auf die familiäre Tradition der gemeinsamen Sederabende nie vergessen. „Nachdem mein Vater 1990, mein Bruder und meine Schwägerin 1991 verstorben waren, sagte ich zu meinen Nichten, wir feiern weiter, wir fahren nach Israel.“ Eine der Nichten, Joana (Asia) Radzyner, war bis Ende 2009 ORF-Korrespondentin für Tschechien, die Slowakei und Polen. Auch sie ist ein ständiges Mitglied der Radzyner Pessach-Reisegruppe, die immer öfter auf Mallorca feiert. ◗

* IDC – Interdisciplinary Center

© Reinhard Engel

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