Maurice Samuel Aigner: „Ich kann es mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu leben als in Wien – außer natürlich in Israel!“

3953
MAURICE SAMUEL AIGNER wurde 1953 in München geboren und arbeitete dort als selbstständiger Unternehmer. Eine berufliche und private Neuorientierung führte ihn 2009 nach Wien, wo er zuerst für eine Hausverwaltung, dann für Privatstiftungen administrativ tätig war. Seit einem Jahr ist er in Pension. © Ronnie Niedermeyer

Ich kam in München als Sohn einer Jüdin zur Welt und wusste lange Zeit nicht, was das für mich bedeutet. Dass ich überhaupt begann, mich mit meinem Judentum zu beschäftigen und damit auch meine weitläufige Verwandtschaft in Israel kennenlernte, verdanke ich meiner zweiten Ehefrau. So erfuhr ich nach und nach: Die Großeltern meiner Mutter waren georgische Juden. Nach der Oktoberrevolution flüchteten sie in die Türkei – manche Verwandte gingen nach Persien, andere nach Erez Israel. Der Großvater meiner Mutter wurde Rabbiner an der Shalom-Synagoge in Istanbul. Ihre Eltern organisierten für sie ein Schidduch mit einem türkischen Juden – von dem wollte meine Mutter aber nichts wissen und ging zu Verwandten nach Paris. Im Winter 1941/1942 wurde sie dort von der Gestapo gefasst. Sie kam in ein Außenlager des KZs Dachau, betrieben von der Deutschen Sprengchemie Geretsried, die Dynamit herstellte. Mit gefälschten Papieren konnte meine Mutter glücklicherweise zurück nach Frankreich flüchten, wo sie bis Kriegsende in einem katholischen Kloster versteckt wurde. Während ihrer Flucht lernte sie meinen nichtjüdischen Vater kennen – einen Münchner, der sie nach dem Krieg in seine Heimatstadt holte. Als ich dort heranwuchs, war Judentum bei uns nie Thema. Weil sie einen Goj geheiratet hatte, gab es auch keinen Kontakt zu den Großeltern. Meine Mutter überlegte, mir einen jüdischen Namen zu geben, doch mein Vater war dagegen – da sie Französisch miteinander sprachen, einigten sie sich auf Maurice. Und wie schon vorhin erwähnt, war erst meine zweite Ehefrau „schuld“ daran, dass ich mich heute überhaupt als Jude sehe. Ihre Eltern waren nämlich Wiener Juden, die nach München gezogen waren – so hatte ich zu Wien bereits eine gewisse Affinität. Wir waren öfters hier zu Besuch – auch in der jüdischen Abteilung am 4. Tor des Zentralfriedhofs, wo das Grab ihrer Großmutter liegt. Durch diese Beschäftigung mit den Wurzeln spürte ich in Paris meine eigene Großmutter auf, die inzwischen von Istanbul dorthin gezogen war. Zum Glück konnte ich noch viel Zeit mit ihr verbringen und erfuhr so meine Familiengeschichte, die mir daheim verschwiegen worden war. Wie es aber im Leben so oft ist, erlebte ich in München nach und nach einen beruflichen, einen gesundheitlichen und letztlich auch einen privaten Bankrott. Wien war in mehrfacher Hinsicht ein naheliegender Fluchtort. Im Stadttempel fand ich eine neue seelische Heimat. Dort lernte ich Judith kennen: Ich hatte Jahrzeit auf meine Mutter und sie auf ihren Vater. Die Blicke trafen einander, wir begannen zu reden – nu, was soll ich sagen, inzwischen sind wir seit sieben Jahren ein Paar. Und ich kann es mir gar nicht mehr vorstellen, woanders zu leben als in Wien – außer natürlich in Israel!

Tipp: Das Pariser Café „La Mercerie“ (Ecke Berggasse/Servitengasse) importiert seine eigenen Éclairs au chocolat direkt aus Frankreich. Bessere wirst du in Wien nicht finden.

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT

Please enter your comment!
Please enter your name here