WINA: Nach Ihrem bekannten Auftritt als Hitler am Opernball kamen viele weitere Rollen, in denen Sie dem Nazi-Führer auf den Zahn fühlten: von George Taboris Theaterstück Mein Kampf, das Sie 2002 in Hitlers einstmaliger Unterkunft, dem Männerheim Meldemannstraße inszenierten, bis zu Ihrem Stück Winnie und Adi aus dem Jahr 2014, einem fiktiven Wortduell zwischen Churchill und Hitler. Außerdem nahmen Sie 2007 an einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Jüdischen Theaterfestivals in Wien teil und organisierten 2011 eine Benefizveranstaltung im Jüdischen Theater Austria. In Ihrem Stück Wir sind die neuen Juden, das 2012 am Theater Hamakom aufgeführt wurde, muss ein Rechtsextremer sich wie einst Anne Frank auf einem Dachboden verstecken. Woher kommt Ihr anhaltender Fokus auf Juden und Nazis?
Hubert Kramar: Ich stamme aus einer antifaschistischen Familie – mein Vater war Arzt, Dichter und Musiker – und bin in den unmittelbaren Nachkriegsjahren aufgewachsen. Damals waren noch viele Lehrer und Beamte aus dem Dritten Reich an ihren Posten und verbreiteten von dort aus ihre faschistoide Gesinnung. Schon früh habe ich mich dagegen aufgelehnt, ohne noch bewusst zu wissen, warum. Später begann ich mich damit auseinanderzusetzen: Nicht nur mit nationalsozialistischem Gedankengut, sondern auch mit dem Volk, gegen das es sich primär gerichtet hat: den Juden. Die Bibel ist unsere Geschichte – eine Geschichte ohne Ende, mit allen Schattierungen, die man auch heute findet. Und das jüdische Volk steht mittendrin – als Brennglas der Humanisierung, als schonungsloser Spiegel der Gesellschaft. Da ist es leichter, sein hässliches Spiegelbild zu zerschmettern, als sich selbst zu verändern: Nebukadnezzar, Xerxes, Antiochus und viele andere haben es probiert. Hitler ist eines der jüngsten und bekanntesten Beispiele dafür. Meine Auseinandersetzung mit Hitler soll zu denken geben: Wer ist Hitler in mir, wo ist mein persönlicher Anteil am patriarchalen Muster, das immer wieder zu Gewalt in unterschiedlichen Formen führt. Der Holocaust hat klar gezeigt, wozu die Menschen fähig sind. Sie werden immer wieder dazu fähig sein, wenn die Umstände dazu verleiten.
»Wenn gute Texte gut vorgetragen werden, führt das Schwingungsebenen herbei, die sich sehr positiv
auf unser Wohlbefinden auswirken.«
Wie erging es Ihrem Vater im Zweiten Weltkrieg?
Mein Vater war vier Jahre Militärarzt an der Ostfront und kam schwer traumatisiert zurück. Das Schweigen dieser Generation kann ich gut verstehen: Sie waren Täter und Opfer zugleich. Jeder, der mit dem Krieg in Berührung kam, war stigmatisiert und hat dieses Stigma unvermittelt seinen Nachfahren weitergegeben. Ich könnte bis ans Ende der Zeit bei Sigmund Freud auf der Couch liegen, es würde diesen Schockzustand nicht eliminieren.
Also haben Sie das Theater als Form der Therapie für sich entdeckt?
Ich hätte ja Arzt werden sollen wie mein Vater. Aber nach dem, was er erlebt hat, war das für mich negativ behaftet. Das Theater hat seine Ursprünge im Apollinischen und im Dionysischen, den Heiltempeln für den Körper und für den Geist. Es ist durchgehend ein heilender Beruf. Wenn die Menschen ins Theater kommen, gehen sie danach gebessert wieder hinaus. Nicht unbedingt als bessere Menschen, aber sie werden sich wohler fühlen. Wenn gute Texte gut vorgetragen werden, führt das Schwingungsebenen herbei, die sich sehr positiv auf unser Wohlbefinden auswirken. Gerade deswegen ist es so ein Skandal, dass Kunst und Kultur von der Regierung einen derartig niedrigen Stellenwert erhalten und jetzt während der Pandemie noch mehr ins Außenseitertum gerückt wurden. Das ist schlichtweg unfassbar: Wir sind Kultur, Österreich lebt von der Kultur.
Wie könnte Theater in Zeiten von COVID-19 aussehen?
Theater reagiert auf gesellschaftliche Zustände. Die Pandemie hat alle Widersprüche unserer Gesellschaft aufgezeigt – das Theater wäre also genau in der richtigen Position, um das Rampenlicht darauf zu richten. Aber diesen Weckruf wollen viele nicht hören, weil es nicht in ihr Konzept passt. Sie werden zur Ausbeutung von Mensch und Natur zurückkehren, weil der schnelle Profit ihre Droge ist. Und wie bei einem Drogensüchtigen wird der langfristige Schaden ignoriert.
Ein wichtiges Element des Theaters ist die Maske. Jetzt tragen alle Menschen eine Maske: Sind wir nicht gewissermaßen Teil einer riesigen Theaterproduktion geworden?
Theatermasken haben einen Charakter, jede Maske ist anders. Eine Maske, die eine Masse aus uns kreiert, ist nichts anderes als Faschismus.
Sie haben vom Schweigen der Kriegsgeneration gesprochen. Als Kunstform hat der Wiener Aktionismus auf dieses Schweigen reagiert. Sie bezeichnen sich ja auch als Aktionist …
Der Wiener Aktionismus war ein radikaler künstlerischer und gesellschaftlicher Bruch, der auch mich und meine Mitstreiter stark beeinflusst hat. Jede Gesellschaft hat ihre Tabuzonen – wer das Tabu bricht, gilt als Provokateur und wird bestraft. Dabei sind die vermeintlichen Provokateure ja selbst von diesen Zuständen provoziert wurden und reagieren lediglich darauf. Ich als Aktionist will niemanden provozieren. Wenn Leute emotional reagieren, zeugt es davon, dass ihre Verletzungen sichtbar gemacht wurden. Deswegen finden echte Aktionen nicht im Theatersaal statt, sondern im öffentlichen Raum: Nachdem ich als Hitler vor der Staatsoper von Polizisten weggezerrt wurde, habe ich mich als Antwort auf die „Spitzelaffäre“ an die Pallas Athene gekettet und zwei Jahre Parlamentsverbot bekommen. Dadurch wird etwas frei, um auf die Psychotherapie zurückzukommen. In mir, und in den Menschen, die sich darüber aufregen. Das wirkliche Theater ist die Straße, der Marktplatz. Dort, wo Terroristen Bomben werfen, werfen wir unsere geistigen Bomben. Dort herrscht eine ganz andere Aufmerksamkeit.
Der Vergleich ist gewagt: Sie meinten ja, Theater sei Therapie und Heilung. Terrorismus aber ist genau das Gegenteil davon; er möchte Angst und Zerstörung verbreiten.
Aus der Sicht der Terroristen muss dieser Zerstörungsmoment stattfinden, um gesellschaftliche Veränderung hervorzubringen. Natürlich ist das oftmals keine Veränderung, die wir uns wünschen, und auch die Methoden sind in keiner Weise gerechtfertigt. Aber ich kann die Motivation der IS-Menschen verstehen. Das sind ja großteils soziale Verlierer und Außenseiter. Wenn sie dann Teil einer großen Bewegung sein können – und sogar selbst etwas Weltbewegendes dazu beizutragen vermögen –, schnappen sie sich diese Gelegenheit. Machen mich ständig alle herunter, ist es nur eine Frage der Zeit, wie lange ich das erdulde. Irgendwann kann der Gedanke aufkommen: „Euch werde ich es zeigen, ich kann euch auch umbringen. Dann bin ich nicht mehr das kleine Arschloch.“ Gerade deswegen ist es ein unglaubliches menschenverachtendes Versagen, was gerade in Moria passiert. Es wäre ja eine Bagatelle, zehn oder hundert Familien nach Österreich zu bringen. Indem wir unsere Türen verschließen, züchten wir bereits die nächste Generation von Terroristen heran, die es uns eines Tages zeigen werden.
Wäre es nicht an der Zeit für eine neue Aktion, um die gesellschaftlichen Zustände, die Grund zur Sorge geben, öffentlich aufzuzeigen?
Ich habe das Glück, eine Art Leben abgeschlossen zu haben. Als jüngstes von sieben Kindern musste ich mich immer gegen sechs größere und stärkere Geschwister durchsetzen. Durch meine Erfolge konnte ich den Geschwistern beweisen, dass ich mindestens genauso gut bin wie sie. Nachdem eine Freundin mich auf dieses Muster aufmerksam machte, konnte ich mich davon befreien.
Vielleicht sollte jemand die IS-Leute auf ihre Verhaltensmuster hinweisen.
Besser wäre es, man integriert diese Menschen schon bevor sie für diese Gedanken überhaupt anfällig sind. Wir ticken ja alle ähnlich, haben vergleichbare Ziele und Ängste.
Was ist Ihr nächstes Ziel?
Zurzeit inszeniere ich Pantoffelhelden, eine neue kluge Komödie von Milo Gavran, die im Mai in Eggenburg und im September im Theater Center Forum gespielt wird.
Und mit dem Schauspieler Stefano Bernardin entsteht außerdem gerade eine Hamlet-Produktion, die wir im November im Theater Akzent zur Aufführung bringen. Als er mit der Idee auf mich zukam, meinte ich zuerst: „Stefano, das ist teuer, das braucht zwanzig Leute, das zahlt ja niemand.“ Nachdem er weiterhin darauf beharrte, sagte ich: „Weißt du, was wir machen: Wenn man stirbt, zieht noch einmal das ganze Leben an einem vorbei. Wir beginnen dort, wo du an dem vergifteten Degen stirbst. Und in dieser Unzeit erlebst du alles und spielst alles.“ Hamlet ist ein Lehrstück. Es ist etwas faul im Staate. Jeder ist Täter, jeder ist Opfer. So wie wir.