Wina Editorial

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„Ich habe kein Gefühl der Rache, weil der Schmerz und der Verlust in mir so groß sind, zu groß. Der Boden unter unseren Füßen ist fortgezogen. Jetzt versuchen wir, in diesem leeren, verlassenen Raum zu sitzen, irgendwie, ohne den geringsten Erfolg.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich eine Enkelin von ihrem Großvater und drückte aus, was Jitzchak Rabins Ermordung für die israelische Gesellschaft bedeutete. Seit dem 4. November 1995 lebt das Land in der Möglichkeitsform: Was wäre gewesen, wenn Yigal Amir an diesem Abend nicht auf den Premierminister, auf den Friedensnobelpreisträger, auf die Hoffnung auf Frieden gefeuert hätte? Doch er tat es, und Jitzchak Rabin starb noch in derselben Nacht. Rabin war ein Held an vielen Fronten: Er kämpfte als Mitglied der Palmach in der britischen Armee, marschierte 1967 als Generalstabchef der israelischen Armee in die eroberte Jerusalemer Altstadt ein und drohte in der ersten Intifada als Verteidigungsminister den palästinensischen Steinewerfern, ihre „Hände und Beine zu brechen“. Doch dann kam 1993 – und er unterzeichnete zusammen mit Jassir Arafat die Friedensverträge von Oslo: Der Weg in eine friedliche Zukunft wurde damit geebnet.

„So schwer die Herausforderung auch sein mag: Unsere größte Pflicht besteht darin (...), den Frauen und Männern beizustehen, die Jitzchaks Vision weitertragen und sein Vermächtnis mit Leben erfüllen. Und wir selbst müssen den Mut aufbringen für den Frieden der Tapferen.“
Leah Rabin

Seither haben Kriege, Terroranschläge, politische und territoriale Entscheidungen viel Schmerz über die Region gebracht, und der Frieden, den sich Rabin gewünscht hat, ist in weite Ferne gerückt: „Wir alle lieben dieselben Kinder, weinen dieselben Tränen, hassen dieselbe Feindschaft und beten um Versöhnung. Der Frieden hat keine Grenzen.“ (Rabin, 1995) Die Welt hat sich seither verändert, die Fronten sind undurchsichtig geworden, statt weniger werden die Grenzen, die Zäune immer mehr, die Kriege alltäglicher, die Feinde zahlreicher. Straßen, Plätze, Autobahnen tragen seinen Namen im ganzen Land. Doch seine Idee des Friedens ist nur noch eine verblasste Erinnerung in den Nischen der israelischen Gesellschaft, die Osloer Verträge sind nur noch ein Stück Papier, ihre Inhalte ohne Bedeutung. Sie wurden zuletzt bei der jüngsten Vollversammlung der Vereinten Nationen von palästinensischer Seite de facto aufgekündigt. Die Reaktion darauf war nur noch ein gelangweiltes Achselzucken der Zuhörer. Über Israel schwappt seit Anfang Oktober eine neue Welle des Terrors: Jugendliche werden über soziale Netzwerke zu Messerattacken aufgerufen. Mit jedem Mord, mit jedem Angriff wächst das Gewaltpotenzial auf beiden Seiten. Es fließen wieder dieselben Tränen für dieselben Kinder, und die Aussicht auf Versöhnung oder auf ein Frieden ohne Grenzen rückt in die utopische Ferne.

Julia Kaldori
Chefredaktion

Bild: Leah und Jitzchak Rabin, 1948. Er diente teilweise als Vorlage für Ari Ben Canaan aus Leon Uris’ Exodus.
© GPO, Israel

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