„Wir präsentieren hier kein Schulbuch“

1883

Der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb hat als Leiter des internationalen wissenschaftlichen Beirats des „Hauses der Geschichte Österreich“ viel Kritik einstecken müssen. Über die Gründe dafür und die Umgestaltung des „Hitler-Balkons“ sprach er mit Marta S. Halpert.

WINA: Im Arbeitsprogramm der Bundesregierung wurde die Realisierung des „Hauses der Geschichte“ in der Neuen Burg nun festgelegt. Zum inhaltlichen Konzept zitieren Sie eine aktuelle SORA-Umfrage, wonach sich 64 Prozent der Befragten ein „Forum für Zeitgeschichte“ wünschen. Wie soll das umgesetzt werden?

Oliver Rathkolb: „Forum für Zeitgeschichte“ bedeutet, dass es zwar eine klassische Sonderausstellung geben wird mit Objekten, Narrativen, Filmen, Installationen aus dem künstlerischen Bereich zu zentralen historischen Themen des späten 19. und 20. Jahrhunderts. Aber es wird kein Museum im herkömmlichen Sinn, sondern ein „Haus der Geschichte Österreich“ (nicht Österreichs), weil es wichtig ist, an diesem Platz zu diskutieren, z. B. zu bestimmten historischen Fragen der Gegenwart. Wir hatten schon lange vor der aktuellen Flüchtlingswelle aus Syrien, Irak und Afghanistan diesen wichtigen Themenblock in das Konzept hineingeschrieben, denn wir wollen auch gegenwartsbezogene Veranstaltungen machen, Symposien und Vorträge. Vor allem viel mit jungen Leuten im Internet arbeiten und versuchen, spannende Vermittlungsprogramme zu gestalten, um jene Gruppen in das Haus zu bringen, die sonst nie ein Museum betreten würden. Das war auch ein Ergebnis unserer Umfrage, dass es unter den 25- bis 30-Jährigen eine generelle Ablehnung gegenüber Museen gibt. Das betrifft ebenso ein Kunstmuseum wie auch die Oper, vielleicht gehen noch einige in das Burgtheater. Dieses Problem versuchen wir mit einem sehr spezifischen Aktionsprogramm anzupacken.

Wien um 1900 ist nicht nur Sigmund Freud, sondern auch die blutigen Schlägereien der Burschenschafter.

Was kann man sich darunter vorstellen?

❙ Wir können die Jugend sicher mit interessanten Angeboten hineinbringen. Durch die Begegnung mit spannenden Musikern, Rappern oder Bloggern. Ein gutes Beispiel ist die Lifestyle-Bloggerin Alizadeh, die Tochter eines Flüchtlings aus dem Iran, der in Österreich Asyl bekam und später ein hoher UNO-Beamter wurde. Sie hat nach persönlichen Besuchen in Traiskirchen ihren Blog umgestellt und die Innenministerin gefragt, wie sie mit den Flüchtlingen umgeht – und hat Tausende zum Protest auf die Straße gebracht. Genau so werden wir auch mit anderen Themen arbeiten.

Unser Zugang – der so manchen Neuzeit-Historiker furchtbar aufregt – ist der Blick in das lange 20. Jahrhundert: Unsere Fragestellungen an die Geschichte gehen von der Gegenwart aus.

Warum beginnt die Geschichte Österreichs erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts?

❙ Der Zeitpunkt ist ein fließender: Uns geht es um die Phase der extremen ökonomischen Beschleunigung, die die erste Moderne getragen hat. Dieser Globalisierungseffekt beginnt in Österreich verspätet, erst so um 1870, 1880, und hat auch etwas mit dem Habsburger Imperium zu tun. Auf der Demokratieachse gehen wir natürlich in Richtung Französische Revolution und ihre Auswirkungen, wie die brutale Verfolgung der Jakobiner auch in Wien aus dem direkten Umfeld des Kaiserhauses. Ab dieser ersten Beschleunigung, Globalisierung geht’s los: Für uns ist der Spiegel des Vergleichs die aktuelle Situation, die Globalisierung heute mit den Ähnlichkeiten zu früher.

Die Eröffnung im Jahr 2018 markiert hundert Jahre seit der Republikgründung. Aber wie sieht die inhaltliche Gewichtung weiter aus?
❙ Alle bisherigen Konzepte mit dem Datum der Republikgründung am 12. November 1918 funktionierten nicht, denn ich brauche zumindest einen Teil, wenn nicht das ganze 19. Jahrhundert, um die zentralen Prozesse in der Globalisierung der ersten Moderne, des Fin de siècle, erklären zu können. Ich kann die Bürokratie nach 1918 nicht erklären, ohne die Bürokratie der ausgehenden Monarchie, der politischen Eliten. Da gibt es einen fließenden Übergang. Wir wollen nicht die klassische österreichische Geschichte von der merkwürdigen Os­tarrichi-Urkunde her über die Babenberger heruntererzählen.

Wir sind hier kein Schulbuch, wir bieten diese Informationen an, aber wir verwenden einen Zeitgeschichte-Begriff, den hier am Institut die Grande Dame der Zeitgeschichte, Erika Weinzierl, schon 1973 vorgezeichnet hat, nämlich diesen langen Blick Richtung 19. Jahrhundert und 1789.

Es soll einen Künstlerwettbewerb zur Neugestaltung des „Hitler-Balkons“ geben. Wie kann man sich das vorstellen?

❙ Es gibt zwei Grundherausforderungen an diesen Ort: erstens das imperiale Gebäude an sich und zweitens, dass die internationale Öffentlichkeit diesen Balkon nur mit der „Anschlussrede“ Adolf Hitlers im März 1938 in Verbindung bringt. Dabei wird die Vor- und Nachgeschichte immer ausgeklammert. Bisher wurde der Balkon, der eigentlich eine riesige Terrasse mit 243 Quadratmetern ist, nur für Aufnahmen des ORF sowie für den Papstbesuch oder Elie Wiesel geöffnet – und ist sonst immer verschlossen. Mit so einem typisch bürgerlichen Vorhang, damit man ja nicht hinausschauen kann. Wir müssen zeigen, dass dieser Ort und der Heldenplatz um 1938 genau so funktionalisiert wurden wie in manch anderen Fällen davor: In den 30er-Jahren wollte man als Abwehrwaffe gegen die Nationalsozialisten eine riesige Kaiser-Franz-Josef-Statue auf den Balkon stellen. Die wäre 15 Mal höher gewesen als ein Mensch, der dort steht.

Gerade dieser Ort wird sich auch für eine permanente Interaktion zwischen Kunst und Geschichte eignen und auch als solcher musealisiert werden, ohne ihn wie jetzt zu sperren und kommentarlos zu verhängen.

Was soll auf der riesigen Terrasse in Zukunft geschehen?

❙ Unser Vorschlag an die Kuratierung lautet, den Balkon für künstlerische Installationen zu nutzen. Die Geschichte des Balkons muss thematisiert, aber die NS-Propaganda gebrochen werden. Denn dieser Balkon ist eine echte Herausforderung, bei der sicher ganz spannende Sachen herauskommen werden.

Es gibt immer noch wöchentlich mediale Angriffe auf Sie. Haben Ihre Kritiker Angst, es könnte zu viel mea culpa Austria bei Ihrem Konzept herausschauen? Worauf führen Sie die Vehemenz dieser Kontroverse zurück?

❙ Ja, das habe ich unterschätzt. Ich dachte nicht, dass diese Debatte so emotional und untergriffig sein wird. Das rechtskonservative Spektrum stößt sich einerseits daran, dass ein Zeithistoriker, der sich sehr intensiv mit der NS-Geschichte beschäftigt hat, aber auch mit ihren ganz schrecklichen Nachwirkungen bis herauf in die Gegenwart, mit diesem Projekt betraut ist. Andererseits empfinden sie es als eine Entweihung des Imperialen, es ist die Entweihung des Hofburg-Ensembles. Und gerade diese Öffnung, das Denken in neuen Strukturen, irritiert und stört viele. Und am linken Spektrum herrscht die Aufregung darüber, dass da ein neues Zentrum entsteht, wo Geschichte verhandelt wird. Sie haben Angst vor einem Masternarrativ. Sie bevorzugen kleinere Projekte mit lokalem Bezug, wie z. B. das gut gemachte Zeitgeschichtsmuseum in Ebensee oder ein virtuelles Museum in Tirol. Das ist eine völlige Überschätzung der vorhandenen Strukturen. Sie sind generell gegen größere Kulturinstitutionen, die empfinden sie per se als schlecht. Derartige Projekte werden auch in das Kooperationsnetzwerk des HGÖ eingebunden werden.

Wie wollen Sie diese Gruppen überzeugen?

❙ Daran arbeiten wir, denn selbst progressive Experten wünschen sich zwar ein Haus der Geschichte, aber weg vom Zentrum, an die Peripherie, weil „die Leute nicht ins Zentrum kommen“. Über dieses Argument habe ich mich kürzlich wirklich sehr geärgert. Natürlich kommen sie in die Stadt herein, diese Ghettoisierung muss aufhören.
Wir haben uns im Beirat und auch in der Umsetzungsstrategie intensiv mit dem Zielpublikum und der Vermittlung auseinandergesetzt und sind uns bewusst, dass gerade in der Gegenwart und in den nächsten Jahrzehnten, in der Österreich von einer „Zuwanderung-wider-Willen-Gesellschaft“ zu einer Einwanderungsgesellschaft wird, ein derartiger Ort der Ausei­nandersetzung mit historischen Prägungen wichtiger ist denn je zuvor. Nicht als autoritäre Bildungsinstitution mit Frontalunterricht für Migrantinnen und Migranten, sondern als gemeinsames Interaktionsforum, das überdies stark durch Veranstaltungen und moderierte Debatten in den neuen Medien vertieft und verbreitert werden wird – für alle, die in Österreich leben.

Sie kannten Leon Zelman. Er träumte schon Ende der 1990er-Jahre von einem Haus der Geschichte, einem Haus der Toleranz. Würde er sich über das jetzige Konzept freuen?

❙ Das traue ich mich nicht zu sagen. Worüber er sich freuen würde, wäre die Art, wie wir mit dem NS-Kapitel umgehen, auch was die Nachkriegszeit betrifft, die ihm sehr wichtig war. Wir haben bereits mit dem Projektteam, das jetzt die Österreich-Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau kuratiert, Kontakt und werden auch gemeinsame Überlegungen anstellen. Denn wir möchten den Konnex zwischen Heldenplatz 1938 und Auschwitz herstellen. Man kann eine tolle Ausstellung im fernen Polen machen, aber die Geschichte beginnt hier und nicht erst 1938, sie beginnt schon im rabiaten Antisemitismus und Rassismus in der Monarchie. Zum Propagandisten und Politiker ist Hitler in Deutschland geworden, aber die charakterlichen Prägungen sind hier passiert. Monarchie ist nicht nur Wien um 1900 und Sigmund Freud, dazu gehören auch die blutigen Schlägereien der Burschenschafter an der Universität Wien. Diese Geschichten wollen wir aufzeigen, und das würde Leon Zelman sehr gut gefallen.

Oliver Rathkolb, geb. 1955 in Wien, ist Professor für neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Wien und Leiter des internationalen wissenschaftlichen Beirats des „Hauses der Geschichte Österreich“. 2005–2008 Direktor des Ludwig-Boltz­mann-Instituts für europäische Geschichte und Öffentlichkeit. 2008–2012 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen und Auszeichnungen.

Bild: © Juerg Christandl / picturedesk.com

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